Spiel der Schatten (German Edition)
sie in Ruhe, ihr elenden Bestien!«, hörte sie Milo noch rufen, während sie von Panik getrieben einen von frisch gefallenem Schnee bedeckten Hügel hinaufrannte. Von der Kuppe aus konnte sie den Ausgang des Parks sehen, wo sich um diese späte Zeit viele Menschen drängten. Atemlos und am ganzen Leib zitternd lief Cyn bergab und in den Schutz der Menge.
Von Milo und den Grimmlingen war nichts mehr zu hören.
21
OHNE AUSWEG
Auf dem Weg zurück nach London bekam Cyn eine Ahnung davon, wie sich Menschen fühlen mussten, die von der Polizei verfolgt wurden. Die Furcht vor Entdeckung war allgegenwärtig.
Sie begleitete sie, als sie zusammen mit den anderen Besuchern des Kristallpalastes den Bahnhof betrat. Sie schien neben ihr zu stehen, während sie am Bahnsteig auf den Zug wartete. Und sie schien ihr über die Schulter zu blicken, während sie in dem vollbesetzten Waggon stand, sich an eine Haltestange klammerte und fieberhaft überlegte, was sie nun tun sollte.
Zum Finsbury Circus konnte sie nicht, dort würde sie den Grimmlingen geradewegs in die Arme laufen. Aber wohin sollte sie dann? Zweifel überkamen Cyn, ob es richtig gewesen war zu fliehen, aber Milos Furcht und Verzweiflung hatten ihr keine andere Wahl gelassen. Was waren das für Kreaturen, die nur aus Dunkelheit und Schatten zu bestehen schienen und dennoch so wirklich waren, dass das Wasser auf sie reagiert hatte? Cyn wusste es nicht, und es war ihr in diesem Moment auch gleichgültig. Sie wollte nur möglichst viel Distanz zwischen sich und diese grässlichen Kreaturen bringen – und so schlug sie, kaum dass der Zug Liverpool Station erreicht hatte, den Weg zur Holywell Lane ein.
Sie wollte zurück nach Hause, dorthin, wo ihr alles vertraut war und kein Schattenungeheuer auf sie lauerte. Sie dachte an ihren Vater und daran, dass sie ihm hatte helfen wollen, an das Versprechen, das sie Milo gegeben hatte – doch die Angst überwog in diesem Moment bei Weitem.
Vorbei war die Sorglosigkeit, die Cyn den Tag über verspürt hatte, verflogen das ohnehin nur flüchtige Glück. Hier, in den Straßen der Stadt, wo die Kutschen und Fuhrwerke verkehrten, wo die Costermonger ihre Waren verkauften und die Obdachlosen sich auf der Suche nach Zuflucht in Mauernischen und Hauseingänge drängten, schien die Bedrohung durch die Grimmlinge plötzlich seltsam fern. Dennoch war sie da, so gegenwärtig wie der bittere Geruch von Feuer und Ruß, der in der kalten Luft lag.
Wie in Trance lenkte Cyn ihre Schritte die High Street hinauf. Dass es inzwischen dunkel geworden war und auch in der Stadt heftiger Schneefall eingesetzt hatte, nahm sie nur am Rande wahr. Ihr Ziel war das Penny Theatre, die einzige Zuflucht, die ihr noch geblieben war. Immerzu sah sie sich um und vergewisserte sich, dass ihr niemand folgte, während sie sich eine erbärmliche Närrin schalt.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Hatte sie wirklich geglaubt, es allein mit den Schatten aufnehmen zu können? Und überhaupt, wieso hatte sie all diese absonderlichen Dinge, die ihr begegnet waren, nur so widerspruchslos hingenommen?
Je mehr Distanz sie zwischen sich und die Schatten brachte und je vertrauter ihre Umgebung wurde, desto mehr kam ihr alles vor wie ein Albtraum, und sie konnte es kaum erwarten, Lucy und den anderen davon zu erzählen. Cyn zweifelte nicht daran, dass die Freunde ihr helfen würden – warum nur hatte sie sich nicht gleich an sie gewandt?
Die Antwort auf diese Frage war so einfach, dass sie Cyn trotz ihres aufgelösten Zustands dämmerte.
Milo.
Irgendetwas an dem Jungen, der keinen Körper hatte und nur als Schatten existierte, hatte Cyns Zutrauen geweckt. Aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, ihm vertrauen zu können, und dass ein Handel, den sie mit ihm abschloss, in jedem Fall Bestand haben würde. Inzwischen fragte sie sich, wie sie nur so dumm und naiv hatte sein können. Denn die Angst, die sie bei Milo gespürt hatte, als die Grimmlinge auftauchten, war kaum geringer gewesen als ihre eigene. Dass sich ein Schatten vor anderen Schatten fürchten könnte, war ein Gedanke, der ihr bislang noch nicht gekommen war – aber war er wirklich so abwegig?
Fürchteten sich nicht auch Menschen vor Menschen? Hatte sie nicht auch Angst davor, dem grässlichen Desmond Brewster wieder zu begegnen?
Als Cyn endlich den Hintereingang des Theaters erreichte, war aus ihrer Panik Verwirrung geworden. Sie wusste beim besten Willen nicht mehr, was sie denken, geschweige denn,
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