Spiel Der Sehnsucht
sollte, einzuquartieren.
Es sei denn, daß das, was die alte Gräfinwitwe zu wollen behauptete, nicht dasselbe war wie das, was sie wirklich wollte.
War die alte Frau listig genug anzunehmen, daß ihr launischer Enkelsohn genau die Frau würde haben wollen, die man ihm verweigerte?
Lucy blieb nachdenklich sitzen, bis sich das erste Hausmädchen in der Halle rührte und unter dem Fenster ein Straßenfeger zu pfeifen begann. Als sie sich schließ-
lich aus dem Sessel erhob, fühlte sie sich erschöpfter als am Abend zuvor nach der langen Reise. Sie würde sich vorerst damit begnügen, ihre Schutzbefohlene und ihre Arbeitgeberin zu beobachten. Vielleicht konnte sie dabei etwas über die wahren Absichten der Gräfinwitwe herausfinden.
Doch ebenso wachsam wollte sie auch Lord Westcott im Auge behalten. Sie hatte innerhalb von zwölf Stunden zwei unangenehme Auseinandersetzungen mit ihm gehabt. Gestern hatte sie ihm eine Ohrfeige versetzt, und heute hätte sie ihm für seine Frechheit, an ihre Tür zu klopfen, am liebsten noch eine verpaßt.
Doch nicht diese beiden Zwischenfälle waren es, die sie am stärksten beunruhigten. Viel beunruhigender war, daß der Mann einfach zu viel Anziehungskraft besaß.
Noch dazu hatte er in langen Jahren herausgefunden, wie er seine Großmutter am besten verärgern und brüskieren konnte. Es war nötig, daß Lucy ihn genau studierte, damit sie sich um so besser gegen ihn zur Wehr setzen konnte.
Lucy goß sich Wasser aus einem kostbaren Porzellan-krug in die dazu passende Waschschüssel und begann ihre Morgentoilette, während sie weiter überlegte. Sie wußte, daß der Umgang mit Ivan nicht leicht sein würde.
Er war schlau, und er war darauf aus, seiner Großmutter das Leben schwer zu machen. Und aufgrund ihrer Verbindung zu der alten Dame würde er das gleiche bei ihr versuchen.
Stell ihn dir einfach als vergrößerte Ausgabe von Derek oder Stanley vor, dachte sie. Oder von Derek und Stanley in einer Person. Versuch nicht, ihn zu brüskieren, steuere ihn nur behutsam in eine andere Richtung. Versuche all seine überschüssige Energie auf ein anderes Ziel zu lenken.
Wie sie sich allerdings selbst am besten seiner unheimlichen Attraktivität entziehen konnte, wußte sie nicht.
Ignoriere sie, befahl sie sich, nimm sie einfach nicht zur Kenntnis. Denk statt dessen an Sir James Mawbey.
Genau, Sir James. Erleichtert klammerte sie sich an die Vorstellung ihres Idols. Mochte Ivan Thornton eine noch so starke, animalische Anziehungskraft ausstrahlen, die auf jede normale, gesunde Frau ihre Wirkung nicht ver-fehlen würde - mit den geistigen Gaben und dem über-ragenden Wissen eines James Mawbey konnte er es nicht aufnehmen. Sie würde Ivan Thornton einfach ignorieren und nur noch an Sir James denken. In weniger als einer Woche sollte die erste Vorlesung stattfinden. Bis dahin würde sie es sicher schaffen, ihre lästigen, backfischhaf-ten Gefühle zu überwinden.
So hoffte sie.
Sie bekam den Grafen weder an diesem noch am nächsten oder übernächsten Tag zu Gesicht.
Am Mittwoch kam Lady Valerie an, und die drei Frauen blieben zu Hause, damit Valerie, die sehr scheu war, sich in die neue Umgebung eingewöhnen konnte. Sie war mit ihrer Zofe gereist, einem jungen Mädchen namens Tilly, das durch London, durch Westcott House und durch die Anwesenheit einer wahrhaftigen Gräfinwitwe so eingeschüchtert war, daß Lucy sie am liebsten kräftig durchgeschüttelt hätte. Zwei richtige Babys waren sie, Herrin und Zofe. Diese Tilly würde jedenfalls keine Hilfe sein.
Eineinhalb Tage später hatte sich die Nervosität der Zofe noch immer nicht gelegt. »Sie brauchen bei dem Tanz morgen abend nicht anwesend zu sein«, teilte Lucy ihr mit. »Lady Westcott und ich werden Lady Valerie begleiten.«
Auf dem Mausgesicht des Mädchens zeigte sich Erleichterung. Valeries hübsche Züge jedoch verschatteten sich. »Aber - aber ich brauche sie doch. Sie ist bei mir, seit ich alt genug bin, eine Zofe zu haben. Oh, bitte, lassen Sie mich nicht ohne sie gehen ...«
»Sei nicht so kindisch«, unterbrach Lady Westcott sie scharf. »Eine Zofe im Ballsaal? Soll sie dir vielleicht die Hand halten und dich stützen?«
Lucy hatte sofort bemerkt, daß Valerie vor ihrer Patentante stets in Ehrfurcht erstarrte, wenn diese sie anrede-te. Das konnte sich nur als gut erweisen, denn um so enger würde sie sich an sie selbst anschließen. Tröstend legte Lucy ihren Arm um das Mädchen.
»Sie haben doch mich,
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