Spiel Der Sehnsucht
Valerie. Ich werde jede Minute neben Ihnen sein, wenn sie nicht gerade tanzen.« Sie fühlte, wie das Mädchen zitterte, und wußte genau, was seine nächsten Worte sein würden.
»Muß ich tanzen?«
Lady Westcott schnaubte, doch Lucy gab ihr keine Gelegenheit zu einer weiteren ätzenden Bemerkung, die das Mädchen noch mehr verängstigt hätte. »Es ist doch nur eine ganz gewöhnliche Hopserei, gar kein richtiger Ball. Man wird tanzen, und wenn Sie zum Tanz aufgefordert werden, müssen Sie annehmen. Für einen jungen Kavalier würde es ein großes Mißgeschick bedeuten, wenn Sie ihm einen Korb gäben. Sie werden schon alles richtig machen«, fügte sie hinzu und drückte Valerie auf-munternd.
»Kommen Sie, lassen Sie uns üben«, fuhr sie fort. »Ich werde den Part des Mannes übernehmen. Nennen Sie mich einfach Graf Stolperbein. Würden Sie bitte spielen?« fragte sie die alte Dame, während sie sich mit Valerie in der Mitte des Raumes in Position stellte. »Sonst wäre ich gezwungen, zu summen.«
Ivan ging ungläubig den Tönen eines mißgestimmten Klaviers nach, in die sich der Gesang einer überdurch-schnittlich guten Stimme mischte. Er hatte die letzten Tage mit Elliot in der Regent Street verbracht, wo er auf Teufel komm raus gespielt und gehurt hatte. Doch zu seinem größten Mißvergnügen hatte er feststellen müssen, daß es keinen Spaß machte, sich schlecht zu benehmen, wenn das alte Reff von Großmutter nichts davon erfuhr.
Bis heute war ihm nicht klar, warum er sie an jenem Abend nicht einfach an ihren Ohren aus seinem Haus hinausgezerrt hatte. Vermutlich lag es daran, daß er sich gelangweilt hatte. Gemeinsam mit ihren Begleiterinnen stellte sie zumindest eine Abwechslung dar. Daher war er heute abend nach Hause gekommen, um sie nach Kräften zu ärgern und vielleicht auch ein bißchen diese außerordentlich hübsche Miss Drysdale.
Doch das letzte, was er erwartet hatte, war diese Musik, die aus dem zweiten Salon zu hören war. Ebenso wenig vorbereitet war er auf die Szene, die sich ihm bot.
Die alte Lady saß am Klavier; wie ein Rabe hockte sie vor den Elfenbeintasten und entlockte ihnen eine etwas schräge Version einer beliebten Melodie. Dazu drehte sich, in der Rolle des Tänzers, Miss Lucy Drysdale mit einer außergewöhnlich schönen Blondine auf dem Parkett.
Ivan stand im Schatten der halboffenen Tür und beobachtete fasziniert und verärgert zugleich die Tanzfiguren, die die beiden Frauen ausführten.
Es war Miss Drysdale, die sang. Ihre Stimme war eher tief und rauchig zu nennen und glich in keiner Weise dem schrillen Geträller, das gerade in Mode war. Ebenfalls gegen den Zeitgeschmack waren ihre eher große Gestalt und ihr dunkles Haar. Für Ivan allerdings war sie nicht zu groß. Und obwohl ihr Haar die dunkle Farbe von altem Mahagoni besaß, fing sich darin jeder Lichtre-flex im Raum. Ihre Flechten glommen in schierem Gold und feurigem Rot.
Während er sie betrachtete, fühlte er plötzlich Verlangen in sich aufsteigen. Doch es war die jüngere Frau, für die er sich interessierte, redete er sich ein, nicht die Anstandsdame. Er zwang sich, sich auf sie zu konzentrieren - seine Kusine, das Mädchen, das Miss Drysdale vor ihm beschützen sollte.
Mit ihren blonden Haaren wirkte sie wie ein kleiner glänzender Diamant, wie ein silbrig schimmerndes Juwel. Sie war klein und hellhäutig und hatte vermutlich blaue Augen. Nur blau würde zu diesem zarten, rosigen Teint passen.
Er grinste bei dem Gedanken an das leichte Spiel, das er haben würde. Frauen hatten ihm nie viel Widerstand entgegengesetzt. Sogar jene, die ihn für einen mittellosen Matrosen oder einen verwegenen Schmuggler gehalten hatten, waren nicht schwer zu verführen gewesen. Sie wollten sich verführen lassen, und sein schlechter Ruf hatte sie nicht im mindesten gestört. Nun, da er so begehrenswert geworden war, hätte er jede beliebige Frau heiraten können oder sie als seine Geliebte aushaken, je nachdem, mit welcher Art von Frau er es zu tun hatte.
Diese junge Unschuld vom Lande würde ihm kein Problem bereiten, außer, daß er vielleicht anfangs begeisterte Hingabe würde heucheln müssen. Doch vielleicht besaß sie auch Verstand in ihrem hübschen Köpfchen.
Möglicherweise konnte man sich mit ihr über Themen unterhalten, die über die neueste französische Mode und die Anzahl der Handschuhe in ihrem Koffer hinausgin-gen.
Das Lied endete, die Gräfinwitwe sah vom Klavier auf, und ihre Augen trafen auf die
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