Spiel Der Sehnsucht
Dorset in den Frieden des Familiensitzes zurückziehen und dort auf die Nachricht warten, daß ein Enkelkind unterwegs sei.
Lucy hätte Ivan lieber geschlagen, als ihn zu küssen.
Doch zum Glück meldete sich ihr Realitätssinn - und der Sinn für die Erkenntnis des Lächerlichen zurück, und sie mußte sich eingestehen, daß sie nicht ganz ehrlich war.
Ja, sie wollte ihn schlagen. Doch noch lieber wollte sie ihn küssen.
Es waren nun eineinhalb Tage vergangen, seit sie Ivan zuletzt gesehen hatte; ein Tag, eine Nacht und noch einige Morgenstunden waren verflossen, seit er sie nackt in ihrem Bett zurückgelassen hatte. Fünfunddreißig Stunden kläglichen Elends. Ärger, Sehnsucht, Angst und Verwirrung waren die Gefühle, in deren Strudel sie hinabge-zogen wurde. Auch Wut war dabeigewesen.
Denn Ivan war es nicht zufrieden gewesen, ihr leicht-sinniges Verhalten als Damoklesschwert über ihrem Haupt schweben zu lassen. O nein, er hatte es zudem für nötig befunden, ihren Bruder aufzuklären, und sie hatte sich seither ständig Grahams heiligmäßige Predigten anhören müssen. Es hatte Graham nicht gereicht, daß sie sich zur Ehe mit dem Missetäter bereit erklärte. Er hatte die Gelegenheit genutzt, ihren Sündenfall - ihren vollständigen Sündenfall - zum Anlaß zu nehmen, sich jeden Ärger, den er je ihretwegen gehabt hatte, vom Herzen zu reden. Wenn sie Winston Fletcher geheiratet hätte, so warf er ihr vor, wäre dieses Debakel nie geschehen. Hätte sie Carlton Claveries Antrag angenommen, wäre die Familie nicht derart durch eine überstürzte Heirat in Peinlichkeiten geraten. Hätte sie sich von George Anderson vor den Altar führen lassen, wäre der Name der Familie makellos geblieben.
Grahams Redefluß wurde erst durch Lucys entschie-denen Einwurf, daß Ivan ein Graf sei, während Carlton und Winston nur den nicht erblichen Rittertitel trügen und George Anderson nur der zweite Sohn eines Viscounts sei, gehemmt. Sie hatte dieses Argument nicht gern benutzt, doch zumindest hatte es gewirkt.
Nun jedoch, als Graham sie durch den Kirchengang der fast leeren Kapelle von St. Mary of the Archangels führte, war es nicht Ivans Titel, an den Lucy dachte. Sie dachte an den Mann, der mit zerstreutem Blick und aus-druckslosem Gesicht wartend neben dem Priester stand.
In wenigen Minuten würden sie verheiratet sein. Dann würde er sie vor ihrer und seiner Familie sowie den wenigen Freunden, die dieser überstürzten Hochzeit bei-wohnten, küssen.
Lucy empfand eine unbestimmte Furcht bei dem Gedanken an den Brautkuß. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich vor versammelter Gemeinde zu einem Pfützchen Wasser zerschmelzen, denn es stand durchaus in Ivans Macht, dies durch seinen Kuß zu bewirken. Und es gab keinen Grund anzunehmen, daß er sie nicht auf diese Weise demütigen würde. Schließlich hatte auch sie ihn gedemütigt durch ihre anfängliche Weigerung, ihn zu heiraten.
Sie schluckte schwer, als Graham mit ihr vor Ivan stehenblieb. Die Stille in der Kapelle war erdrückend.
»Wir sind hier versammelt im Angesicht Gottes und der Menschen«, begann der Priester.
Seine Worte verschmolzen in Lucys Ohren zu einem unverständlichen Singsang, und dann war alles vorüber.
Das einzige, woran Lucy sich später noch erinnern konnte, waren die beiden Male, als Ivan sie berührte, denn da schlug ihr Herz jedesmal einen Trommelwirbel: das erste Mal, als er ihre linke Hand nahm und ihr einen Ring an den Finger steckte. Vage nahm sie wahr, daß der Ring paßte und schwerer war als jeder Ring, den sie bisher getragen hatte; das zweite Mal, als Ivan sie küßte, nachdem der Priester sie für Mann und Frau erklärt hatte. Ihre Ängste jedoch waren unbegründet gewesen; sie hatte keine Närrin aus sich gemacht. Ivans Kuß war ebenso emotionslos gewesen, wie ihrer gefühlsüberfrachtet war.
Er hatte sie nicht einmal an den Schultern gefaßt, sondern sich nur vorgebeugt und kühl und unpersönlich mit seinem Mund ihre Lippen berührt.
Trotzdem begann ihr Herz zu galoppieren, und es raste direkt auf den Abgrund der Verzweiflung zu.
»Meinen Glückwunsch«, sagte der Priester und schüttelte Ivan die Hand.
Graham umarmte Lucy, ebenso wie ihre weinende Mutter, Valerie und Hortense. Sogar Lady Westcott nahm sie kurz in die Arme. Doch alle guten Wünsche konnten nicht darüber hinwegtäuschen, was alle gesehen haben mußten. Ivan Thorntons sogenannte Leidenschaft für seine Braut war entweder ausgebrannt oder hatte nie wirklich
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