Spiel der Teufel
noch diese Verantwortung«, sagte sie
und deutete auf ihren noch flachen Bauch, in dem allmählich
Leben heranwuchs. »Ich kann nicht gehen.«
»Das wollte ich nur hören. Und sollte dir noch irgendwas einfallen,
du weißt schon, etwas, das für uns wichtig sein könnte,
dann ruf an, wir kommen sofort.«
»Versprochen«, erwiderte sie, begleitete Henning und Santos
zur Tür und blieb stehen, bis sie in ihren Wagen eingestiegen
waren, und wartete, bis sie außer Sichtweite waren.
DIENSTAG, 16.20 UHR
Auf der Fahrt in die Rechtsmedizin sagte Santos: »Sören, du
kannst mich jetzt totschlagen, aber für mich sind die Fakten
eindeutig. Es war Mord, der als Selbstmord getarnt wurde. Wir
sollten als Erstes mit Ziese sprechen und ihn fragen, woran
Gerd zuletzt gearbeitet hat.«
»Das hatte ich sowieso vor«, entgegnete Henning mit aufgesetzt
stoischer Ruhe, was Santos sofort erkannte und ihm auch
nicht übelnahm. Gerd Wegner war sein Freund gewesen, sie
kannten sich seit mehr als fünfzehn Jahren und hatten sogar
eine Weile in derselben Abteilung Dienst geschoben. Sie konnte
sich vorstellen, was in ihm vorging, auch wenn er es sich
nicht anmerken lassen wollte, denn nach wie vor war Henning
ein in sich gekehrter Mann, der nur selten Emotionen zeigte.
Nur wenn sie mit ihm allein war, abends oder an freien Tagen,
kam er auch mal aus seinem Schneckenhaus gekrochen.
Aber auch sie selbst war ziemlich verwirrt und kaum in der
Lage, die Situation einzuschätzen, zu viele zum Teil sehr seltsame
Dinge hatte sie in der letzten Stunde erlebt, speziell das
mit den Uhren. Sie hatte schon von solchen Sachen gehört,
aber heute zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen. Es war
etwas Übernatürliches, mit dem normalen Verstand nicht
Greifbares oder Begreifbares, und doch schien es real zu sein.
Und wie Nina steif und fest behauptete, ihr Mann sei ermordet
worden. Dieser Ausdruck in ihrer Stimme und ihren Augen,
Santos würde das nie vergessen. Das hatte nichts mit Glauben,
sondern mit Wissen zu tun. Vielleicht der untrügliche Instinkt
einer Frau, die ihren Mann besser als jeder andere kannte, weil
sie ihn über alles liebte.
»Ich war ja nur ein paarmal bei ihnen, aber die müssen eine
sehr harmonische Ehe geführt haben, soweit ich das mitbekommen
habe«, sprach Santos ihre Gedanken vorsichtig aus,
als sie sich dem Institut für Rechtsmedizin näherten. »Auch
wenn ich glaube, dass er Geheimnisse vor ihr hatte.«
Ohne auf den letzten Satz einzugehen, sagte Henning: »Das
zwischen ihnen war mehr als Harmonie, die waren wie füreinander
geschaffen. Einfach perfekt. Kennst du eigentlich ihre
Geschichte?«
»Nur bruchstückhaft. Wenn wir bei ihnen waren, haben sie nie
darüber gesprochen.«
»Gerd und Nina haben sich in St. Petersburg kennengelernt,
als er von 2000 bis 2002 dort im Austausch war. Sie war damals
noch Kunststudentin. Die haben sich gesehen, und es hat gefunkt.
Nach einem halben Jahr war die Hochzeit, und sie ist
natürlich mit nach Deutschland gekommen, als seine Zeit
drüben vorbei war. Ich weiß noch genau, wie er und sie Ende
Januar 2002 hier eingetroffen sind. Ich steckte noch in meinem
unendlichen Tief, aber Gerd habe ich eine Menge zu verdanken.
Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht ... Das war
noch vor deiner Zeit.« Er hielt für einen Moment inne, dann
fuhr er fort: »Nina kommt aus irgend so 'nem Dorf in der Nähe
von Murmansk, wollte dort aber nicht versauern. Jedenfalls, als
sie hier ankamen, war sie schon hochschwanger und hat nur
etwa zwei Wochen später Rosanna zur Welt gebracht. Den
Rest kennst du.«
»Sie tut mir leid, sie tut mir wirklich unendlich leid. Warum
werden manche Menschen so gestraft? So jung und schon so
viel durchgemacht. Sie hat doch weiß Gott niemandem etwas
getan, und Gerd auch nicht. Er war doch nur einer von uns.«
»Stimmt, und genau deshalb will ich wissen, was da passiert ist.
Gerd war viel zu anständig und verantwortungsbewusst, als
dass er sich aus dem Staub gemacht hätte. Nee, jeder, aber nicht
Gerd. Weißt du, Lisa, mir ist eigentlich zum Heulen zumute,
aber ich kann nicht. Vielleicht bei der Beerdigung, obwohl ich
Beerdigungen hasse.«
»Wer nicht ? Na j a, es gibt schon so ein paar komische Kauze, die
keine Beerdigung auslassen, du weißt schon, was ich meine.«
»Hm.« Er schien Santos' letzte Worte gar nicht mehr wahrgenommen
zu haben, als er vor dem Gebäude der Rechtsmedizin
parkte.
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