Spiel der Teufel
Wisst ihr«, sagte sie mit entschuldigendem und
verlegenem Lächeln, »ich bin in einem Dorf in Russland groß
geworden. Wir hatten nie viel Geld, im Gegenteil, die Armut
war unser ständiger Gast. Manchmal hatten wir im Winter
nicht genug Holz zum Heizen. Die Heizung funktionierte fast
nie, und wir hatten nur noch den Kaminofen. Oft hatten wir
nicht genug zu essen ... Es war schrecklich und doch schön,
weil wir eine Familie waren und zusammengehalten haben und
es immer noch tun. Genauso war es mit Gerd. Wir haben zusammengehalten,
egal was auch passiert ist. Ich wollte immer
einen Mann wie ihn, einen, zu dem ich aufblicken kann. Bei
ihm fühlte ich mich geborgen. Er war der beste Mann, den ich
mir wünschen konnte. Und jetzt ist dieser Mann tot. Ich weiß
nicht, wie es weitergehen soll ...«
»Es wird weitergehen, du bist stark ...«
»Das sagt jeder, der mich nicht wirklich kennt. Dabei ist alles
nur Fassade. Aber ich habe gelernt, hart zu sein. Die Winter in
meinem Dorf zerbrechen dich, oder sie machen dich hart.«
»Du bist nicht hart«, sagte Santos sanft, ging zu Nina und legte
einen Arm um sie. »Das ist nur ein Schutz. Und glaub mir, ich
kann dich verstehen, und Sören auch ...«
»Nein, das kann keiner verstehen, der so etwas noch nicht erlebt
hat«, entgegnete Nina.
»Das ist es ja, wir haben Ähnliches erlebt. Es wird eine Weile
dauern, aber irgendwann wirst du zur Ruhe kommen.«
Nina hatte wieder Tränen in den Augen, als sie sagte: »Aber
wann ist dieses Irgendwann? Das Leben mit Gerd war so
schön. Natürlich haben wir uns auch gestritten, das passiert in
jeder Ehe, aber normalerweise ging es bei uns sehr harmonisch
zu. Lass es mich so ausdrücken: Die Zeit mit Gerd war die beste
aller Zeiten, und jetzt ist es die schlechteste aller Zeiten. Das
hat irgendjemand mal geschrieben, ich weiß nicht, wer, aber
jeder von uns kennt das Beste und das Schlechteste. Und ein
russisches Sprichwort sagt: Es kann nichts Gutes ohne Böses
geben. Hier bei uns war jahrelang nur das Gute, doch auf einmal
ist auch das Böse mit aller Macht eingezogen. Und das
macht mir Angst.«
Santos wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und sagte:
»Dürfen wir uns im Haus noch mal kurz umsehen?«
»Ja, natürlich. Ich möchte ja auch, dass Gerds Mörder gefasst
wird, aber ich glaube kaum, dass ihr etwas finden werdet. Wer
immer auch hier war, er hat ganze Arbeit geleistet, das habt ihr
doch auch an dem Notebook gesehen.«
»Nur eine Frage noch. Seit wann hatte Gerd den neuen Wagen?
«
»Vier, fünf Wochen. Aber das müsste doch irgendwo stehen.«
»Ja, klar.«
Henning und Santos blieben noch etwa eine Stunde. Sie suchten
nach möglichen Hinweisen in Gerds Zimmer, nach Spuren in
der Garage, sie gingen in den Keller, wo er sich einen Hobbyraum
eingerichtet hatte, und schließlich noch einmal zu Nina,
um ihr mitzuteilen, dass ihre Suche erfolglos war. Sie sagte, sie
habe nichts anderes erwartet, und bedankte sich mit den Worten:
»Danke für eure Freundschaft. Ich wüsste nicht, was ich
ohne euch machen würde. Ihr seid jederzeit herzlich eingeladen.
Und wenn es geht, lasst mich wissen, wenn ihr etwas herausgefunden
habt.«
»Danke für dein Vertrauen«, sagte Henning und umarmte
Nina. »Wir halten dich auf dem Laufenden, versprochen.«
Um halb zwei fuhren sie zurück nach Kiel. Sie waren noch
etwa einen Kilometer von Santos' Wohnung entfernt, als Hennings
Handy klingelte. Er kannte die Nummer und ahnte, dass
der Anruf nichts Gutes bedeutete.
DIENSTAG, 19.15 UHR
Nach einem sonnigen und für hiesige Verhältnisse sehr warmen
Apriltag zog nun ein angenehm kühler auflandiger Ostwind
über Kiel. Der intensive salzige Geruch der Ostsee hatte
sich über die Stadt gelegt, ein Geruch, den er über alles liebte.
Hier war er vor achtunddreißig Jahren geboren worden, hier
war er zur Schule gegangen, und hier würde er auch noch viele
Jahre verbringen, denn er konnte sich nicht vorstellen, woanders
zu leben.
Er stand einen Augenblick am offenen Fenster und schaute
hinunter auf den gepflegten Park, wo sich nur wenige Menschen
aufhielten, von denen zwei sich auf die See zubewegten,
die nur etwa zweihundert Meter von der Klinik entfernt war.
Er hatte die Hände in den Taschen seiner Leinenhose vergraben
und dachte über den vergangenen Tag nach, der für ihn aus
vier Routineoperationen bestanden hatte, zwei Bypässe und
zwei Herzschrittmacher. Die Liste der
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