Spiel des Lebens 1
und unvermeidlich.
»Ihr habt etwas genommen, was euch nicht gehört. Und dafür werdet ihr sterben.«
Eine schmutzige Hand mit langen Fingernägeln packte Emily, riss sie vom Boden hoch und stieß sie in Richtung der Treppe. Dann schloss sich der Kreis der grauen Armee um ihre beiden Angreifer. Emilys Blick war noch immer getrübt, ihr Kopf noch immer benommen. Sie sah alles wie durch einen dichten Nebel, und sie sah vor lauter grauen, schmutzigen Gestalten nicht, was sich dort in der Mitte des Geschehens abspielte.
Doch sie hörte es.
Sie hörte die Geräusche, die entstehen, wenn Fäuste und Schlagstöcke Körper treffen, wenn Knochen brechen, wenn Menschen um ihr Leben schreien – und rannte.
Rannte, rannte, rannte.
11
Er beobachtete, wie sich das ferne Licht der Signalleuchte und das nahe Licht seines Feuerzeugs im Stein seines Ringes brach. Der Mann, der vor ihm lag, rührte sich nicht.
Henry Bowers , las er im Licht der Flamme des Feuerzeugs. Ihm reichte das flackernde Licht der Flamme, und seine Augen, die an die Dunkelheit gewohnt waren, flogen über die Zeilen in Bowers Reisepass. Er hatte das Portemonnaie von Bowers geöffnet, das Geld an die Squatter verteilt und studierte nun den Pass Zeile für Zeile.
Er hörte ein ersticktes Geräusch, das von unten kam, und beugte sich vor. Langsam erwachte Bowers aus der Bewusstlosigkeit. Sein Kopf war geschwollen, er rollte sich hin und her, als würden einige seiner Rippen gebrochen sein, was sie wahrscheinlich auch waren. Ob er wohl erraten würde, wo er hier lag? Es war dunkel. Doch dann und wann blitzten aus dem Dunkel ein paar Augenpaare hervor. Hasserfüllte Augenpaare, und er wusste, dass Bowers sie auch gesehen hatte.
Er schaute in die Augen von Bowers, konnte sehen, wie die Erinnerung allmählich zurückkam. An das Mädchen. An das, was sie mit ihr vorgehabt hatten. Und an das, was dann mit ihnen passiert war. So schnell konnte es gehen.
Bowers versuchte sich aufzurappeln, doch er fiel stöhnend zur Seite. Seine Augen flackerten.
Er hatte keinen Nachtblick, so wie er. Bowers konnte in der Dunkelheit nicht sehen, wo er war. Er wusste nur, dass da Leben um ihn war, Augenpaare über ihm, er konnte hören, dass er nicht allein war, nicht allein in der Dunkelheit. Manchmal war es allerdings besser, allein zu sein als mit den falschen Leuten zusammen. Bowers schien etwas sagen zu wollen, doch dann bemerkte er das Klebeband, das man ihm um den Mund gebunden hatte.
Er richtete die Taschenlampe auf Bowers, der dort unten gefesselt lag, und hob den Reisepass in die Höhe. Bowers blinzelte, und in dem, was von seinen fast zugekniffenen Augen noch zu sehen war, blitzte Angst hervor.
Er begann zu lesen. »Henry Bowers hat sich an etwas vergriffen, was ihm nicht gehört«, sagte er mit feierlicher Stimme. Um ihn herum sammelten sich noch mehr Schatten, und alle funkelten Bowers mit hasserfüllten Augen an. »Was sagen die Ankläger?«, fragte er.
»Schuldig«, lallte eine Stimme von irgendwo aus dem Dunkel.
»Was sagen die Geschworenen?«, fragte er nach einer angemessenen Pause weiter.
»Schuldig«, lallten andere Stimmen.
»Damit«, fuhr er fort, »verurteilen wir Henry Bowers zum Tode! Das Urteil ist sofort zu vollstrecken.«
Er sah, wie Bowers mit den Fesseln kämpfte. Wahrscheinlich wusste er, dass es kein Gerede war. Er hatte gesehen, was sie mit seinem Kumpel gemacht hatten. Sein Mund bewegte sich, als wollte er sagen: Tötet mich nicht , doch er bekam nur gedämpfte Grunzlaute heraus, die durch das Klebeband in eine bizarre Geräuschkulisse verwandelt wurden.
»Keine Sorge«, sagte er, hob das Feuerzeug und zündete Bowers Reisepass an. »Wir werden dich nicht töten.« Bowers blinzelte, während sich die Schatten zurückzogen und mit tapsenden Schritten und lautem Atmen irgendwo nach oben kletterten.
»Wir nicht.«
Er spürte das Vibrieren in der Erde, hörte das Grollen, das langsam näher kam. Und er erkannte in Bowers Augen, wie allmählich die Erkenntnis in ihm wuchs, die mit grausamer Langsamkeit unvermeidlich nach oben stieg wie eine faulige Gasblase in einem Tümpel. Der harte Untergrund, auf dem Bowers lag, die Fesseln, die er spürte, die Dunkelheit um sich herum – und das Vibrieren und Grollen der Erde, das näher kam, immer näher.
Er schaute noch einmal in Bowers Augen, während die Flammen am Papier des Reisepasses emporzüngelten und Bowers Foto verformten.
Bowers hatte verstanden.
Nicht nur, dass er sterben würde,
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