Spiel des Lebens 1
nicht. Sie drückte ihn mit Gewalt in das Schloss, drückte zu, drückte weiter und …
Rttschhhh!
Sie zog schreiend ihre Hand von der Tür weg. Der Schlüssel war am Schloss abgerutscht, und durch den Druck war ihre Handfläche an der Kellertür und dann an der modrigen Wand entlanggeschrabbt.
Sie hielt sich mit schmerzverzerrtem Blick die Hand und schaute auf die Stelle. Die Haut war abgeschürft, und an einigen Stellen sickerte ein wenig Blut aus der Wunde.
Sie fluchte, hob den Schlüsselbund wieder auf. Dann der nächste Schlüssel, und der nächste. Den vom Briefkasten im Wohnheim und den von ihrem Schrank in ihrem Zimmer zu Hause, den sie immer noch mit sich trug. Wahrscheinlich, weil ihr Schlüssel irgendwie fehlten. In die Villa ihrer Eltern kam man mit einer ID -Karte, die auch noch den Fingerabdruck ablas. Und im College war es ähnlich, wenn auch ohne Fingerabdruck.
Es musste doch irgendwie gehen , dachte sie. Es musste doch gehen.
Nach zehn Minuten warf sie wütend und erschöpft den Schlüsselbund auf den Boden und setzte sich wieder an die Stelle an der Wand, wo sie eben schon gesessen hatte. Sie spürte das Brennen an ihrer Hand, tastete vorsichtig über die abgeschürfte Haut und blickte mit leeren Augen Richtung Decke.
Da hörte sie das Geräusch.
Tropfen.
Wassertropfen.
Dip, dip, dip …
Sie hatte es die ganze Zeit nicht wahrgenommen, aber jetzt auf einmal hörte sie jeden dieser Tropfen so laut, als würde jemand das Wasser direkt in ihr Gehirn gießen.
Schlafen war damit völlig unmöglich.
Sie hatte einen kurzen Moment überlegt, sich einfach hinzulegen und zu warten, bis am nächsten Morgen der Hausmeister oder wer auch immer die Tür öffnen würde oder jemand nahe genug herankam, um ihr Geschrei zu hören. Sie blickte auf die Uhr.
18:50 Uhr.
Das würde bedeuten, sie könnte wahrscheinlich frühestens in zwölf Stunden damit rechnen, dass wieder jemand vor Ort wäre.
Zwölf Stunden waren verdammt lang, wenn man nicht wusste, was man in dieser Zeit machen sollte.
Schlafen jedenfalls nicht.
Das Tropfen machte sie wahnsinnig.
Dip, dip, dip …
Vielleicht lesen?
Sie hatte ihre Tasche dabei, nahm einige der Unterlagen aus dem Englischseminar heraus, hielt sie sich dicht vor die Augen und stellte die Taschenlampen-App auf ihrem iPhone ein. Jetzt konnte sie die Buchstaben einigermaßen erkennen.
Nun komme ich endlich mal dazu, alles abzuarbeiten , dachte sie, aber sie merkte im gleichen Moment, wie schlecht es ihr gelang, sich diese Situation schönzureden. Und es gab auch einfach nichts, was man sich hier schönreden konnte. Die Situation war absolut beschissen, da gab es gar nichts dran zu rütteln. Ihr Blick flog holpernd über die Buchstaben, doch in dem flackernden Neonlicht und der blassen iPhone Lampe war dennoch wenig zu erkennen, und selbst wenn sie etwas sah, tanzten wegen der flackernden Lampe ständig Sterne vor ihren Augen.
Und dann das Tropfen.
Dip, dip, dip …
Einige Sekunden versuchte sie noch stoisch, den Text weiterzulesen, ohne auch nur ein einziges Wort verstanden zu haben.
Dann warf sie mit einem heulenden Schrei die Unterlagen in die Ecke.
Die Mappe landete mit einem klatschenden Geräusch halb an der Wand, halb in einer der Pfützen.
Sie sprang auf, zog die Mappe aus der Pfütze heraus, und begutachtete die nassen Seiten, sorgenvoll, wie eine Mutter ein Kind anschaut, das gerade ins Wasser gefallen ist. Die Papiere über Shakespeares König Lear sahen jetzt aus, als hätte sie jemand als Kaffeefilter benutzt.
Auch das noch, was soll der Professor denken, wenn er das sieht? , fragte sie sich und probierte, das Papier mit einem Taschentuch zu trocknen.
Wenn er das sieht , hörte sie in dem Moment die andere Stimme in ihrem Kopf, wenn dich überhaupt noch jemand jemals lebend wiedersieht.
Dazu das Tropfen von der Decke.
Dip, dip, dip …
Das Tropfen machte sie wahnsinnig.
Emily warf die Mappe wieder zu Boden und stampfte mit dem Fuß auf. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt mit dem Fuß aufgestampft hatte, es musste einer Weile her sein. Aber was sollte sie sonst tun? Die Verzweiflung und die Aggression nagten an ihr und suchten ein Ventil, um herauszukommen.
Die Tür , dachte sie.
Sie musste ihre Wut und Aggression nutzen, musste diese verdammte Tür aufbrechen.
Sie stellte sich an die modrige Wand gegenüber und fixierte die Tür wie einen Feind, den sie vernichten wollte.
Sie spannte die Muskeln, rannte los, mit der rechten Schulter voran,
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