Spiel des Lebens 1
es ihm gar nicht peinlich gewesen, sondern er hatte Angst gehabt, dass er sich damit verraten hatte? Dass dadurch die Gefahr bestand, dass Emily sein Spiel durchschauen könnte? Sie hatte sich am Kaffeeautomaten versteckt an diesem verfluchten Samstag, als sie danach den toten Jack Barnville in seinem Penthouse gesehen hatte. Und Ryan? Er hatte vielleicht nur so getan, als sähe er sie nicht, hatte sie aber die ganze Zeit im Blick, oder besser im Fadenkreuz.
Carter blickte auf seine Notizen.
»Bei der Geschichte mit St. Paul’s war er auch nicht bei Ihnen?«, fragte er. »Nicht wahr?«
Aufhören, schrie es in ihr. Bitte aufhören. Nein, er war nicht dabei gewesen, und ja, sie hatte kapiert, was Carter ihr sagen wollte, aber nein, nein, nein – trotz allem weigerte sie sich, das zu glauben.
Denn die Frage war: Warum sollte er das tun? Sie sah Ryan aus den Augenwinkeln, der blass und stocksteif dastand und gar nichts sagte, als wäre er vom Blitz getroffen worden.
Und wieder kam eines dieser furchtbaren Argumente gegen Ryan, die wie Geschosse auf ihren Geist einschlugen.
St. Paul’s, der Anruf und das seltsame Rätsel, dachte Emily. Gehe dorthin, wo das Jahr nach oben strebt … Sie hatte Julia angerufen, und ihre beste Freundin war sofort zur Stelle gewesen. Und Ryan? Nur die Mailbox. Er war nicht zu erreichen gewesen. Warum nicht? Vielleicht, weil er wirklich nicht ans Telefon gehen konnte, weil er in einer Vorlesung war? Vielleicht aber auch, weil er sie parallel von einem anderen Handy aus angerufen hatte? Die Stimme war anders gewesen als die von Ryan, aber vielleicht hatte er die Stimme irgendwie digital verändert, das ging doch heute alles mit der Technik, oder er hatte jemanden beauftragt, um den Verdacht von sich abzulenken, hatte irgendjemanden, der die bösen Psycho-Anrufe durchführte, so eine Art Call-Center-Agenten des Schreckens? Und studierte Ryan nicht Psychologie? Und hatte er sie vielleicht nur zu diesem Hypnotiseur, diesem Dr. Johnson, mitgeschleppt, damit er noch mehr über Emily herausfinden und sie noch mehr terrorisieren konnte? Steckte Dr. Johnson da möglicherweise irgendwie mit drin? Wie Johnson ihn angeblickt hatte. Ein wenig wie ein Professor, der einen strebsamen Studenten zum Lernen ermuntern will. Aber auch wie einen Mitwisser, der ein dunkles Geheimnis mit Ryan teilte. Steckten die beiden unter einer Decke? Nutzte Ryan diesen Johnson, um Emilys tiefstes Inneres zu öffnen, damit er sie dann noch mehr verletzen konnte? Aber warum? Was hätten die beiden davon? Was hätte Ryan davon, mit ihr zu spielen?
Was haben Terroristen davon, wenn sie eine Bombe auf einem Marktplatz hochgehen lassen?
Dem Bösen ist oft das Böse Grund genug.
Aber passte das zu Ryan, der sich all ihre Geschichten angehört hatte, der für sie gekocht hatte, der immer ein offenes Ohr für sie gehabt hatte, sie getröstet hatte?
Carter schwieg, als wüsste er, was gerade in Emily ablief. Dass Emilys Geist mit einer eiskalten Klinge die Wirklichkeit sezierte und immer neue Scheiben von Beweisen herausschnitt. Denn so sehr Emily diesen bösen, nagenden Verdacht von sich weisen wollte, umso stärker fuhr ihr rationaler Verstand weitere Geschütze auf, die für ihre These und gegen Ryan sprachen. Denn vielleicht hatte er sie auch nur deswegen bestärkt und wieder aufgebaut, damit er sie beim nächsten Mal umso stärker treffen konnte. Hatten die alten Römer ihre Gefangenen nicht auch gut ernährt, bevor sie den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden?
Sie konnte es nicht glauben, wollte es nicht glauben, durfte es nicht glauben, doch die Fakten lagen auf der Hand. Und sie waren unübersehbar. Denn es ging noch weiter. Da waren diese beiden falschen Bodyguards und der Anruf von Julia, dass sie im Keller des College gefangen war. Emily hatte Ryan angerufen. Und, war er erreichbar gewesen? Nein! Warum nicht? Weil er selbst gerade mit Emily telefonierte, um sie mit diesen beiden falschen Bodyguards in den tiefen Keller zu locken? Aber all der Aufwand, all die Intrigen, all die Rätsel. Warum? Warum?
Tja, warum?
Warum tun Menschen das Böse?
Manchmal nur, weil es böse ist.
Und sonst nichts.
Denn eines setzte dem ganzen endgültig die Krone auf. Dass Ryan auf der Dachterrasse vom College gesehen wurde, kurz bevor die Bombe hochgegangen war. Und dass der Drohanruf tatsächlich von seinem Handy aus erfolgt war.
Die ganze Zeit schon hatte sie sich gefragt, wer sie dermaßen terrorisierte. Wer war dieser Irre? Der
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