Spiel des Lebens 1
gefragt, nicht dumm geguckt, keine altklugen Ratschläge gegeben. Er war einfach nur da gewesen, wenn sie ihn brauchte. Sie hatte ihm alles erzählt, und er hatte zugehört. Nur zugehört, anstatt, wie die allermeisten, zu warten, bis der andere fertig ist, damit sie dann selbst erzählen können.
Ryan, in dessen Bett sie so ruhig und friedlich geschlafen hatte. Mit dem sie nachts in der Bibliothek gewesen war. Sie sah ihn noch vor sich, wie er mit dem großen Paradise Lost- Buch von Milton an den Lesetisch kam, und wie sie beide zu später Stunde über Miltons Epos vom Fall Satans und der Rebellion gegen Gott gebrütet hatten.
Hatte sie sich da in ihn verliebt oder war es schon die erste Begegnung an jenem ersten Donnerstag im Wohnheim gewesen?
Dann der Besuch bei Dr. Johnson. Auch das hatte Ryan für sie arrangiert.
Und schließlich die gestrige Nacht. Die Kerzen, mit denen Ryan versucht hatte, der puritanischen Strenge der Wohnheimzimmer ein wenig Gemütlichkeit abzuringen.
Ihre erste Nacht. Ihre erste richtige gemeinsame Nacht.
Weißt du, was ich die erste Nacht hier geträumt habe? Dass wir zusammenkommen. Und dann nach einer Pause. Ich habe mich in dich verliebt.
Sie war in Ryans Armen eingeschlafen, hatte die Kerzen am offenen Fenster gesehen, die im leichten Wind des Spätsommers flackerten, und hatte geschlafen, wieder tief und fest.
Doch hatte sie nachts nicht irgendein Gesicht betrachtet? So wie in der ersten Nacht, als sie von den Sternen und den Augen geträumt hatte?
»Nein!«, sagte Emily, schaute Carter an, dann Ryan, dann wieder Carter. »Das ist nicht möglich! Das kann nicht sein!«
Sie sah Ryans traurige Augen, die sie flehentlich anblickten.
»Schön ist das nicht, Ms Waters«, sagte Carter. »Aber die Beweise sprechen eine andere Sprache!«
»Welche Beweise?«, fragte Emily. Was bildete dieser Carter sich ein? Glaubte er, er würde ein Problem lösen, nur wenn er Emily ihren neuen Freund wegnahm? All die Beweise, die sie kannte, sprachen dafür, dass Ryan es nicht war. Und nicht umgekehrt.
»Wie gesagt, Ms Waters: Er war auf der Dachterrasse. Und von seinem Handy kam der Anruf an Sie, nachdem der Sprengsatz losgegangen war.«
»Na und?«, fragte Emily. »Das soll ein Beweis sein? War es überhaupt sein Handy?«
»Ja, das war es«, sagte Carter. Ryan erwiderte nichts, stand dort, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.
»Und denken Sie doch mal nach, Ms Waters, auch über die gegenwärtigen Beweise hinaus«, sprach Carter weiter. »War Mr Ryan Edwards immer in Ihrer Nähe, wenn etwas passiert ist?«
Sie dachte nach. Hatte Carter recht?
Ihr Verstand weigerte sich, diese Frage zu beantworten.
Unsinn! Sie waren auf dem Holzweg. Emily würde sich nie so in einem Menschen täuschen.
»War er in der U-Bahn-Station, als die drei Typen Sie vergewaltigen wollten?«, fragte Carter.
Sie versuchte, Ryan nicht anzublicken, um ihre eigenen Gedanken zu ordnen.
Nein, das war er nicht gewesen, weil er sich um seinen Freund gekümmert hatte, um Nick, den Rüssel. Er war mit ihm ins Krankenhaus gefahren, wo sie Nick den Magen ausgepumpt hatten.
»Und was war in der Bibliothek?«, wollte Carter wissen. »Als der Anruf kam, der Sie nach Canary Wharf gebracht hat?«
Sie schaute kurz in Ryans traurige Augen, in denen die Tränen schimmerten, und musste den Blick abwenden, um nicht an Ort und Stelle loszuheulen.
Und trotzdem kamen sie, die Zweifel, langsam, nagend, aber unaufhaltsam.
Wieder sah sie Ryan in der Bibliothek vor sich. Sie hatte ihn kurz am Kaffeeautomaten gesehen. Und dann war er ganz plötzlich verschwunden gewesen. Erst danach war der Anruf gekommen. Der erste Anruf, in dem es um Milton ging. Three poets in three distant ages born …
Sie dachte daran, wie sie sich vor ihm versteckt hatte, während er am Automaten den Kaffee gezogen hatte. War das ein Wink ihres Unterbewusstseins gewesen, der ihr, fünf Tage vor Dr. Johnson, schon eine Warnung zurief, sich von diesem Menschen fernzuhalten – was sie natürlich nicht getan hatte?
Denn woher wusste der Anrufer immer, wo sie war? Vielleicht weil Ryan sie doch vorher gesehen hatte?
Er kannte sich erstaunlich gut in der Bibliothek aus, dafür, dass er auch noch nicht länger am College war als sie. Hatte er nicht erzählt, dass er abends und nachts öfter dort war? Und hatte sie nicht gemerkt, dass ihm diese Aussage im selben Moment peinlich gewesen war? Weil er dadurch als Streber erscheinen könnte? Aber vielleicht war
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