Spiel des Lebens 1
auch Jack, würden das anders formulieren. Banken sind nämlich immer gut darin, etwas Schlechtes schönzureden. Sie würden wahrscheinlich sagen: ›Ich habe ihn aus der Haben-Seite seiner Vita storniert.‹ Oder: ›Ich habe seine Rest-Lebenszeit fristlos fällig gestellt.‹«
Er schaute sie an.
»Na, wie klingt das?«
Ganz toll, dachte Emily. Ganz toll, du Freak.
Sie riskierte einen kurzen Blick auf ihre Uhr. 23:05. Nur noch fünfundfünfzig Minuten, und sie wusste nicht, was dann geschehen würde. Sie wusste nur, dass sie Zeit gewinnen musste. Und dass sie die eigentlich nicht hatte. Denn diesem Psychopathen glaubte sie sofort, dass er sie umbringen wollte. Und wenn sie schreien würde oder fliehen, würden die Squatter das Übrige erledigen. Sie hatte gesehen, wozu sie fähig waren, letzten Samstag, frühmorgens vor fast einer Woche, in der U-Bahn-Station. Die Schreie, die Geräusche von Schlägen, das Brechen von Knochen.
»Mary Lawrence hat mich also aufgezogen«, sagte Jonathan, »oder das, was sie darunter verstand. Jedenfalls ließ sie mich immer wissen, was für eine Belastung ich sei und dass sie mich am liebsten loswerden wollte. Und ihr Freund, Jack, der sah das genauso.« Er trank einen Schluck Whisky. »Er erkannte allerdings etwas, was andere nicht erkannten. In mir.«
»Und was war das?«
»Ohne mich selbst loben zu wollen«, begann Jonathan und schlug ein Bein über das andere. »Ich verfüge über eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe, gepaart mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz, gepaart mit einem fotografischen Gedächtnis. Das, was die Pädagogen ›Hochbegabung‹ nennen.«
Na toll , dachte Emily. Ein hochbegabter Mörder. Und wo ist da nun der Unterschied?
»Jack war damals schon Daytrader«, sprach Jonathan weiter, »dein Vater hat dir sicher erklärt, was das ist. Diese Typen, die mit ihren Computern zu Hause mit allen möglichen Aktien und Anlagen handeln, um kurzfristig Geld zu machen. Das hat er auch getan. Allerdings wenig erfolgreich. Mary war nicht sonderlich glücklich darüber, sie befürchtete, Jack würde die ganze Familie noch in die Arme der Heilsarmee treiben. Doch dann hatte Mary eine tolle Idee. Mary, musst du wissen, ist damals gerade gefeuert worden, als Sekretärin deines Vaters, da sie ihren Kontostand zu Lasten des Kontostands deines Vaters ein wenig, sagen wir mal, optimiert hat. Sie wusste also von jemandem, der viel Geld hatte. Weißt du wer?«
Sie hasste es, was er tat. Sie hasste dieses Frage- und Antwortspiel, aber doch machte sie das, was er von ihr erwartete.
»Mein Dad«, sagte Emily tonlos.
»Dein Dad«, wiederholte Jonathan, »Thomas Waters, damals gerade zum Vizepräsident in der Abteilung für Fusion und Übernahmen der Bank Silverman & Cromwell befördert. Was also würden Jack und Mary mit ihrer großen Intelligenz machen, wenn sie an Geld kommen wollen?«
Hatten sie ihren Vater ausgeraubt? Davon hatte sie nie etwas gehört. Und es würde auch nicht ganz passen, denn welche Rolle hätte dann ein zehnjähriger Jonathan?
»Ausgeraubt haben sie meinen Vater nicht, denke ich«, sagte Emily.
»Kluges Mädchen.« Jonathan nickte. »Haben sie auch nicht. Sie haben das von deinem Vater genommen, das noch viel mehr wert ist als Geld. Weißt du, was das ist?«
Emily fielen einige Dinge ein, die für sie mehr wert waren als Geld. Liebe, Freunde, Glück. Aber das hatten Jack & Co sicher nicht gemeint.
»Informationen«, sagte Jonathan. »Dein Vater Thomas Waters arbeitete in der Abteilung für Fusionen und Übernahmen. Er wusste, welche Aktien heiß waren, weil die Firma in zwei Wochen übernommen werden sollte. Er wusste, welche Aktien runtergingen, weil Firma A für Firma B zu viel bezahlt hatte. Natürlich durfte er diese Informationen an niemanden weitergeben, denn das wäre ja…«, er machte eine kurze Pause, »ein Verstoß gegen die Insiderregeln. Und da«, er hob die Hände, »da kam ich ins Spiel.«
Sie sah, wie er kurz innehielt, wahrscheinlich, damit Emily eine Frage stellen konnte. Doch sie konnte nur mit offenem Mund dasitzen. Information. Information ist mehr wert als Geld.
»Also kamen Jack und Mary auf die Idee, dass es doch ideal wäre, wenn ich, als sozusagen völlig unverdächtiger Bote, der dazu noch ein fotografisches Gedächtnis hat, dass ich einfach die Informationen von deinem Vater zu Jack bringen würde. Jack sitzt zu Hause an seinem Trading-Terminal und nutzt diese Informationen, um die richtigen Aktien zu
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