Spiel des Lebens 1
damals: Die Vergangenheit war ein Irrtum, eine Illusion, die nicht sein sollte. Und die auch nicht mehr war. Es fühlte sich alles so richtig an. Ich wusste, hier gehöre ich hin. Die ist die Realität. Die ist die Zukunft. Das dachte ich bis … bis zu dem Tag, an dem sie mich wieder zurückgeholt haben.«
Emily versuchte, sich zu konzentrieren. Was mussten ihre Eltern alles gemacht haben, um Jonathan nahtlos in die Familie zu integrieren? Was für eine Story hatten sie anderen erzählt, wo dieser fremde Junge auf einmal herkäme? Wie hatten sie ihn in der Privatschule angemeldet, bei den Freunden und Nachbarn vorgestellt? Und was hatten sie gesagt, was mit Emily passiert war? Etwa dieselbe Geschichte, die sie auch Emily erzählt hatten? Dass sie eine Zeit lang sehr krank gewesen sei und in der Schweiz in einer Privatklinik behandelt wurde?
»Hat denn niemand etwas gemerkt?«, fragte Emily. »In der Schule oder wo auch immer, wenn da ein völlig neues Gesicht war?«
Jonathan lächelte wieder. »Dein Vater hat schon dafür gesorgt, dass alles plausibel aussieht. Geld genug dafür hatte er ja. Und Jack hat dafür gesorgt, dass dein Vater wusste, dass er es ernst meint.«
»Was geschah dann?« Sie saß zwar einem Psychopathen gegenüber, der sie höchstwahrscheinlich töten wollte, aber er war offenbar der Einzige, der ihr die Geschichte über ihre Vergangenheit erzählen konnte, und wollte. Und Emily spürte, dass sie jetzt die Wahrheit wissen musste. Egal, um welchen Preis.
»Das Leben ging wieder weiter wie bisher.« Sein Gesicht verdunkelte sich. »Denn es war nicht schön im Haus von Jack und Mary. Das weißt du selbst, Emily. Denn du hast dort auch gelebt. Auch wenn du es vergessen oder verdrängt hast.«
Ja. Sie hatte dort gelebt. In dem engen Zimmer. Wochen. Monate. Unter dem Bild der Sternennacht von van Gogh. Sie erinnerte sich noch, wie ihre Eltern ihr von der Schweiz erzählt hatten. Dass sie für ein paar Monate dort in der Spezialklinik behandelt werden musste. Nichts davon stimmte. Sie hatte ein ganz anderes Leben gelebt. Und ihre Eltern hatten sie angelogen. Ein Teil ihres Lebens war eine Lüge gewesen. Fast so wie das von Jonathan.
»Doch Jack und Mary haben einen Fehler gemacht«, sagte Jonathan. »Sie haben mich, wie so ziemlich alle«, dabei blies er wieder Rauch aus, »sie haben mich unterschätzt. Die Informationen, die ich von deinem Vater bekommen habe, habe ich an Jack weitergegeben, wie ich es sollte. Doch dieselben Börsentransaktionen, die Jack gemacht hat, habe ich auch gemacht.«
»Du hattest als Junge schon ein eigenes Konto?«, fragte Emily. »Wie alt warst du? Zehn? Elf?« Sie versuchte zu rechnen, wie alt Jonathan damals gewesen sein konnte.
»Ich kannte Menschen, die volljährig waren. Menschen, die genauso Außenseiter waren wie ich. Die Menschen«, er blickte sich um, »die du hier siehst.«
»Die Squatter?«, fragte Emily und begriff. Die Blicke der Gestalten hingen an Jonathan, drückten Stolz und Verehrung aus. Jonathan war ihr König, der König der Unterwelt, jemand, der von niemandem verstanden wurde, außer von denjenigen, die auch niemand verstand. Oder mit denen niemand etwas zu tun haben wollte.
»Ich eröffnete mit einem dieser Squatter, der einen halbwegs festen Wohnsitz hatte, ein Konto auf seinen Namen. Sobald ich achtzehn war, auf meinen eigenen Namen. In der Zwischenzeit machte ich all die Transaktionen auf meinem Online-Terminal nach, die Jack auch machte. Und bald«, er drehte an seinem Ring, »bald hatte ich genau so viel Geld wie Jack. Nein, mehr. Viel mehr.« Er lachte. »Du weißt, Emily, Geld ist Macht.«
Er schaute eine Weile an die Decke.
»Jedenfalls. Sie hatten mir alles genommen. Die wunderschöne Kuppelvilla. Mein neues Leben. Dafür war ich zurück bei Jack und Mary, die mich, bevor ich bei euch war, tagelang in mein Zimmer einsperrten, die mich schlugen und erniedrigten. Ich war im Himmel gewesen, der Himmel war hier«, er machte eine Handbewegung durch das Wohnzimmer, »doch am Ende wurde ich in die Hölle zurückgeworfen, von der ich dachte, ich hätte sie verlassen. Mein Paradies war verloren, Emily.«
Paradise Lost, dachte Emily. Der Sturz der rebellischen Engel und des Satans in die Hölle. Darum identifizierte sich Jonathan so sehr mit dem Werk von John Milton. Weil er selbst in eine eigene Hölle geworfen worden war.
Drei Monate meines Lebens habe ich gelebt, den Rest habe ich gelitten. Durch deine Schuld.
»Und du bist schuld.
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