Spiel des Lebens 1
an den Italian Gardens. Da habe ich früher mit Julia immer Kaffee getrunken, ging es ihr durch den Kopf, und sie hatte gar keine Zeit, darüber nachzudenken, wie unpassend der Gedanke an Kaffeetrinken doch jetzt war.
Sie blickte auf das Navigationsgerät. Sie hatte keine Zeit, ihr Ziel einzugeben. Außerdem wusste sie das Ziel ja auch noch gar nicht.
Die Scherbe. Was konnte das sein?
Wieder nahm sie das Handy ans Ohr, konnte einfach nicht anders, sie musste es probieren. Sie wählte einige Nummern. Die von Julia, die von Ryan, die von Carter. Nichts funktionierte. Sie warf das Handy fluchend auf den Beifahrersitz. Natürlich!
Ein weiterer Blick in den Rückspiegel. Da war etwas! Der weiße Van. Er näherte sich mit beängstigender Geschwindigkeit, und es war, als würde sie den Motor hören und die Abgase riechen wie den Atem eines Raubtiers in ihrem Nacken.
Die Scherbe.
Denk nach, Emily, denk nach.
Sie schielte mit einem Auge auf die Straße und nahm ihr iPhone noch einmal in die Hand. Öffnete Google.
Die Scherbe. »The Shard«.
Die Park Lane raste vorbei, dann Hyde Park Corner und links Buckingham Palast.
Der Palast.
Und der irische Prinz.
Als sie kurz die Umrisse des Palastes sah, musste sie wieder an ihn denken. An Ryan.
Sie hatte wirklich geglaubt, er wäre der Schuldige gewesen. Hatte ihn nicht vor Carter und der Polizei beschützt. Hätte sie es nicht besser wissen müssen? Und es wurde nicht besser, je mehr sie sich einredete, dass es Ryan ja nicht gewesen war, sondern dass der wahre Schuldige Jonathan war. Je mehr sie daran dachte, desto größer wurde der Schmerz in ihr. Schmerz, der stärker wurde, je mehr man ihn zu verdrängen versuchte. So als würde sie Salzwasser gegen den Durst trinken.
Tränen traten in ihre Augen, und sie wischte sie hastig weg.
Ryan. Ihm würde sie auch helfen müssen. Sie musste ihn befreien. Doch dafür musste sie erst einmal sich selbst befreien. Und dafür musste sie zu ihren Eltern kommen und diese verdammten Squatter abhängen.
Der weiße Van baute sich hinter ihr auf.
Sie trat auf das Gas, und der Motor heulte.
Sie durfte jetzt nicht aufgeben. Sie musste sich konzentrieren. Sie versuchte, das Bild des weißen Vans unter die Oberfläche ihres Bewusstseins zu drücken.
Wie viel Zeit noch?
Sie raste über eine rote Ampel, Reifen quietschten, Hupen blökten. Irgendetwas krachte bedrohlich im hinteren Teil des Wagens.
The Shard, London, gab sie bei Google ein.
Die Seite öffnete sich langsam. Und die winzige Schrift war im Dunkeln kaum zu erkennen.
Draußen schoss die Victoria Station vorbei, Touristen mit Koffern und Rucksäcken traten auf die Straße. Wieder flog der Wagen über eine Ampel, die schon fast rot war.
Verdammt, bei dieser Amokfahrt konnte sie das niemals lesen. Sie musste den Van irgendwie abschütteln und irgendwo in einer ruhigen Seitenstraße halten.
Sie drückte das Gaspedal durch. Raste über die Vauxhall Bridge.
Sie schielte wieder auf das iPhone.
Dann sah sie das Gesicht!
Sie drückte die Bremse durch, und der Wagen hätte sich fast überschlagen. Da stand jemand vor ihr auf der Straße, eine Flasche in der Hand, und grinste sie mit einem schiefen Lächeln an. Sie riss das Lenkrad herum, vorbei an der gespensterhaften Gestalt mit der Flasche, und gab weiter Gas.
War das einer der Squatter? Sollte er sie aufhalten? Aber warum? Sie begriff es einfach nicht.
Sie blickte in den Rückspiegel. Da war der Mann, der ihr zuwinkte. Es sah gleichzeitig wie ein Abschied und wie eine Begrüßung aus. Und da war noch jemand. Eine kleinere Gestalt. Mit Brille. War das Jonathan? Ja, tatsächlich! Doch wie konnte er hier sein? So schnell? Egal! Sie fuhr weiter, blickte noch einmal durch den Rückspiegel. Der Van war nicht zu sehen. Sie atmete tief durch.
Es half nichts. Sie musste den Google-Eintrag in Ruhe lesen.
Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
Sie schaltete das Licht des Mini aus und bog mit kreischenden Bremsen in eine Nebenstraße nahe dem MI 6, dem Hauptquartier des Britischen Geheimdiensts, ein. Und wie James Bond fühlte sie sich auch. Langsam und vorsichtig kroch sie mit Schrittgeschwindigkeit und ausgeschaltetem Licht die Straße hinunter, fuhr rückwärts in eine Einfahrt hinein, sodass sie jederzeit wieder daraus hervorkommen konnte, und schaute auf die Website.
Shard. London.
Der Akku hatte sich auf einen Strich reduziert. Lange würde es das iPhone nicht mehr machen.
Dann las sie den Eintrag bei Google.
The Shard. London
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