Spiel des Lebens 1
Bridge District.
Sie sah das Bild des gigantischen Wolkenkratzers, der im Sommer 2012 fertig werden sollte. Der mit dreihundertzehn Meter Höhe nicht nur das höchste Gebäude Großbritanniens, sondern eines der höchsten Europas werden würde.
The Shard. Die Scherbe.
Und so sah das Gebäude auch aus. Oder so würde es aussehen, wenn es fertig wäre. Wie eine riesige Scherbe aus glitzerndem Glas, die sich um einen gigantischen Betonkern blitzend in den Himmel erhob.
Nach oben, hatte Jonathan gesagt. Aber wo war dort das Paradies?
Egal , dachte sie, startete den Motor und gab mit zitternden Händen auf dem Navigationsgerät die Koordination des Wolkenkratzers ein.
Dann atmete sie tief durch, beschleunigte und merkte gleich darauf, dass das die richtige Entscheidung gewesen war. Die Angst bezwingen. Sich nicht jagen lassen. Sondern die Führung behalten. Man jagt oder man wird gejagt. Diese Erkenntnis war das Einzige, was ihr in dem Spiel mit Jonathan helfen konnte.
Entweder, man sitzt mit am Tisch , sagte ihr Vater immer, oder man ist auf der Speisekarte . Have lunch or be lunch.
Sie lenkte den Wagen nach Norden, am Albert Embankment vorbei, während links von ihr der Jahrtausende alte Lauf der Themse im Mondlicht schimmerte, auf der anderen Uferseite erhob sich Millbank und das Hauptquartier von Scotland Yard, wo Carter sie nach dem Vorfall in der U-Bahn verhört hatte.
Da vibrierte das Handy.
Eine SMS .
Sie schaute auf das Display.
DU HAST NICHT MEHR VIEL ZEIT.
Sie biss die Zähne zusammen. Verdammter Sadist! Nicht jagen lassen! Er will nur, dass du durchdrehst. Aber trotzdem waren alle Vorsätze, alle Überlegungen vergessen. Emily konnte gar nicht anders. Ihr Fuß tat es ganz von allein. Er drückte auf das Gaspedal.
Rechter Hand flog das St. Thomas Wohnheim vorbei und der Lambeth Palace, dann geradeaus zur Westminster Road, linker Hand die Westminster Bridge und dahinter die Houses of Parliament.
Du hast nicht mehr viel Zeit.
War da ein weißer Van gewesen? Irgendwo hinter ihr? Egal. Sie wusste ja sowieso, dass er ihr folgte. Das war alles nur Teil seines perfiden Spiels.
Menschen liefen auf der Straße, überquerten die Zebrastreifen.
Sie gab Gas, jagte vorbei an dem großen Bahnhof von Waterloo. In Erinnerung an den Sieg über Napoleon errichtet, sagten ihr ihre Gedanken, und sie fragte sich, warum ihr solche Sachen gerade jetzt einfielen. Dann parallel zur Themse die Stamford Street entlang, dann in die Blackfriars Road. Links streckte sich die Blackfriars Bridge über die Themse und weiter dahinter erhob sich im Mondlicht die Kuppel von St. Paul.
Wieder ein Vibrieren.
Sie schaute auf das Display, wie auf einen verfluchten Talisman.
DU HAST WIRKLICH NICHT MEHR VIEL ZEIT.
Sie starrte verbissen auf die Fahrbahn.
Vorbei an der dumpfen und klotzartigen Fassade des Guys Hospital.
Und dann sah sie das, was sich schon die ganze Zeit über ihr aufgebaut hatte und das ihr Bewusstsein nur noch nicht mit dem in Verbindung gebracht hatte, was es war – das Ziel. Das Gebäude, das sie suchte. Umgeben von vier gigantischen, zweihundert Meter hohen Kränen, die sich um den riesigen Betonpfosten scharten, als würden sie einen überdimensionalen Obelisken anbeten, und um den sich die Metallstützen und Glasscheiben allmählich in die Höhe schraubten. Inmitten von Kränen und Stahlträgern ragte der Kern des Gebäudes aus Stahl und Beton hervor, ein überdimensionaler Monolith, der sich in den Nachthimmel streckte. Was einmal The Shard werden sollte, und was, mit seiner im Mondlicht blitzenden Glasfassade schon jetzt wie eine gigantische Glasscherbe aussah, lag direkt vor ihr.
Es war der Moment, in dem sie nach oben auf die Spitze des Wolkenkratzers schaute, als sie unbewusst Gas gab.
Derselbe Moment, in dem der weiße Van plötzlich vor ihr stand.
Sie hörte einen fürchterlichen Knall.
Und dann gar nichts mehr.
50
Er saß in der Limousine und das Licht der Straßenlaterne und das bleiche Licht des Mondes brachen sich gleichermaßen in seinem Siegelring und in dem iPad, das auf seinen Knien ruhte und dessen Licht ihm entgegenglühte. Trevor, einer der Squatter, der sich vor ein paar Tagen als FedEx- Bote für Jack Barnville verkleidet hatte, saß am Steuer, mit Fahrermütze und schwarzem Anzug, die Hände in Zehn- und Zwei-Uhr-Haltung am Lenkrad, während der riesige schwarze Bentley schnurrend über die Straße glitt und die Scheinwerfer die Dunkelheit zerschnitten.
Schneiden, dachte
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