Spiel mir das Lied vom Glück
Weisheit.
»Und die da?«
»Die habe ich bekommen, da war ich noch ein kleines Kind.«
Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Brauen waren geschwungen wie der Flügel eines schwarzen Vogels.
»Meine Mutter meinte, ich wäre an dem Tag einfach zu unruhig gewesen. Es regnete, und sie stellte mich im Hochstuhl auf den Balkon. Ich bin im Stuhl aufgestanden und vornübergefallen.«
Den Rest erzählte ich nicht. Irgendwann hatte Tante Lydia mir berichtet, was wirklich geschehen war. Sie hatte alles von der Nachbarin erfahren, die meine jämmerlichen Schreie gehört hatte. Sie war nach nebenan gelaufen und hatte mich unter dem Brett des Hochstuhls hervorgezogen.
Ich hatte eine Platzwunde am Kopf, weil ich auf das Brett gestürzt war. Sie musste mit elf Stichen genäht werden. Außerdem blutete ich an Händen, Ellenbogen und Knien. Für mich waren es lediglich neue Kratzer und blaue Flecke, die sich zu den alten und den beiden Knochenbrüchen gesellten.
Die Nachbarin hatte gegen die Scheibe der Schiebetür gehämmert, aber meine Mutter hatte ihr nicht geöffnet. Sie lag im Bett, betrunken und deprimiert, weil wieder mal ein Freund abgehauen war.
Deshalb rief die Nachbarin die Polizei, die wiederum das Jugendamt und einen Krankenwagen benachrichtigte. Ich kam ins Krankenhaus. Mein Kopf wurde mit elf, meine Knie mit acht Stichen genäht. Die Narben habe ich bis heute.
Das Jugendamt brachte mich in einer Pflegefamilie unter, schon zum dritten Mal in jenem Jahr. Lydia fand es schließlich heraus und holte mich dort ab.
Tante Lydia beantragte das Sorgerecht für mich, zum zweiten Mal, aber sie bekam es nicht, weil meine Mutter Candy – eine äußerst zierliche Frau mit einem riesengroßen Busen – die liebste, harmloseste Frau sein konnte, die man je gesehen hat. Sie überzeugte den Richter, dass sie ihre Fehler wiedergutmachen, nicht mehr trinken würde und Gott gefunden hätte. Sie sei als Christin wiedergeboren, gelobt sei der Herr, Jesus sei an ihrer Seite, sie habe eine zweite Chance erhalten, ein gottgefälliges Leben zu führen.
Der Richter, ein frommer Christ, glaubte ihr, und so musste ich zurück zu meiner Mutter. Lydia war fuchsteufelswild, erzählte sie mir später, aber von da an war meine Mutter auf der Hut. Nicht weil sie mich unbedingt haben wollte, sondern weil
sie auf keinen Fall wollte, dass Lydia mich bekam. Dann hätte Lydia gewonnen. Das hätte Candy nicht zugelassen. Niemals. Auch wenn ihre Tochter ein erbärmliches, armseliges Leben führte. Lydia war ein ganzes Stück älter als Candy, sie hatten nicht mehr gemeinsam als die Mutter, und sie hatten sich noch nie im Leben verstanden. »Ich komme nicht klar mit Psychopathen«, hatte Tante Lydia mal zu mir gesagt.
Ich wusste, dass Tante Lydia enorme Schuldgefühle hatte, mich nicht vor meiner Mutter gerettet zu haben, aber sie konnte wirklich nichts dafür. Wenn sie uns aufstöberte oder wenn es mir gelang, ihr heimlich einen Brief zu schreiben und unseren Aufenthaltsort zu verraten, versuchte sie immer wieder, Candy zu überzeugen, mich bei ihr leben zu lassen. Aber Candy sagte immer nein, nur nicht in den Sommerferien. Dennoch glaube ich, dass meine Mutter mich oft hasste, besonders als ich größer wurde.
»Hmm … «, machte Caroline erneut. »Das sieht aus wie eine Narbe von einer inneren Verletzung. Von Vernachlässigung. Der Schmerz ist noch in dir, oder?«
Ich nickte, war aber nicht sonderlich beeindruckt. Es ist nicht so schwer, aus meiner Geschichte zu schließen, was damals wirklich geschehen war.
»Davor läufst du auch davon, stimmt’s? Nicht nur vor deinem Verlobten.«
Ich schluckte.
»Du hast noch eine andere Narbe hier, die von deiner Mutter stammt, nicht wahr?«
Ich schaute auf Carolines kleine Hand. Sie fuhr über die größte Narbe auf meinem Knie und betrachtete sie wie durch ein Mikroskop.
»Ähm, die ist nicht direkt von meiner Mutter«, erwiderte ich.
»O doch«, beharrte Caroline und rieb leicht mit dem Finger darüber. »Die ist von deiner Mutter. Ebenfalls durch Vernachlässigung.
Nicht dieselbe Sorte, aber trotzdem. Ja, ich spüre, dass ich recht habe. Es tut mir sehr leid.«
Am liebsten wäre ich in Tränen ausgebrochen. Manchmal konnte mich ein freundlicher Satz, ein ehrlicher Blick oder eine Berührung zum Weinen bringen.
Ja, das war die schlimmste Narbe. Sie war der Auftakt zu noch mehr Narben derselben Sorte gewesen, in mein Herz geätzt wie mit einem Brandeisen.
»Aha.« Ich versuchte mich
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