Spiel mir das Lied vom Glück
näher. Lächelte. Freundlich, gewinnend. Dann schlug er zu. Er verfehlte mich nur um Zentimeter, und ich lief mit Höchstgeschwindigkeit hinaus aufs Land und versteckte mich hinter einem Traktor. Und wieder fand er mich, mit diesem Grinsen im Gesicht.
Das ging so lange, bis er mich schließlich erwischte. In der Ferne sah ich meine Mutter lachen, ihr blondgefärbtes Haar wehte im Wind. Mein Vater saß auf seinem Motorrad und brauste davon.
Als ich erwachte, war mir kalt. Eiskalt sogar. Mein Körper zitterte so heftig, dass ich mir die rosa Decke holte und mich wie eine Raupe darin einhüllte. Eine völlig verschreckte Raupe.
Ich überzeugte mich, dass Robert mir nicht um die Ecke auflauerte, dass ich mich nicht verstecken musste. Dann zwang ich mich durchzuatmen, ein und aus.
Aber es funktionierte nicht. Ich gab auf. Ich nahm das Buch über Rosenpflege vom Nachtschrank und las. Jedes einzelne Wort. Konzentrierte mich voll darauf. Ich lernte eine Menge über künstlichen und organischen Dünger, über alle möglichen Rosenschädlinge, verschiedene Bodenarten und das richtige Wässern von Rosen.
Irgendwann schlief ich ein, und im nächsten Traum jagte mich Robert mit der Spitzhacke durch einen Rosengarten. In der anderen Hand hielt er ein Buch über Rosen. Als ich erwachte, lag das Rosenbuch auf meiner Brust, und die Sonne spähte durch die Holzstäbe der Jalousie ins Zimmer.
Ich hatte genug von Albträumen. Deshalb stand ich auf, zog mir zwei alte Hemden an, die Tante Lydia in den weißen Korbschränken aufbewahrte, und ging nach draußen zu den Scheunen.
Ich wusste, dass Tante Lydia schon auf den Beinen war. Sie brauchte nur wenige Stunden Schlaf, fand Schlafen sogar langweilig, weil sie im Bett einfach nichts erledigen konnte. »Wenn ich tot bin, habe ich noch genug Zeit zum Schlafen. Aber noch lebe ich und habe eine Menge zu tun.«
Zum Beispiel dreihundertsiebzig hungrige Hühner füttern.
Tante Lydia verkaufte die Eier an das Lebensmittelgeschäft in der Stadt und an zwei Läden in Nachbarorten. Oft nannte man sie die »Eierfrau«. Das gefiel ihr.
Stundenlang kümmerte sie sich täglich um ihre Hühner. Sammelte die Eier ein, mistete die Scheunen aus und vergewisserte sich, dass »die Ladys« Zeit hatten, in den speziell von ihr abgetrennten Bereichen zu laufen und sich zu vergnügen.
Als Lydia mich sah, schickte sie mich zu der kleineren Scheune. Sie wies lediglich in die entsprechende Richtung, aber ich wusste, was ich zu tun hatte. Allerdings machte ich einen kleinen Umweg durch den Schweinestall. Melissa Lynn kam herangegrunzt und leckte mir die Hand. Ich bückte mich und schlang die Arme um ihren Hals. Sie rieb ihre Nase an mir, schnaufte glücklich. Die Ferkel grunzten ebenfalls, ich musste lachen.
Das Lachen fühlte sich gut an, befreiend, als wäre es jahrelang von einer Bleikette nach unten gezogen worden. Ich umarmte die Schweine nochmal, fiel mit dem Hintern in eine
Pfütze, und die Ferkel trollten sich. Sie hatten noch einiges vor: aus Trögen fressen, sich im Schlamm wälzen. Das Leben eines Schweins ist sehr anstrengend, muss man wissen.
Als ich vor der Scheune stand – natürlich rosa gestrichen, für Glück und guten Sex, hatte Tante Lydia gesagt –, hörte ich die »Ladys« schon glucksen, sanft und beruhigend, als würden sie sich entspannen.
Aber als hätten sie einen sechsten Sinn und wüssten, dass ich draußen stand und Freiheit und Fressen nur noch wenige Sekunden entfernt waren, bekam ihr Glucksen einen neuen Klang, schriller und aufgeregter, als würden sie mit dem Hintern in einen Eimer Eiswasser getaucht.
Ich öffnete das Scheunentor.
Zuerst stand ich wie versteinert da: Eine Million Hühner flogen nach draußen, das sanfte Glucken wurde zu einem hohen Kreischen. Ein Huhn flog mir gegen den Kopf, ich duckte mich, erhob mich wieder, musste nach rechts ausweichen, um dem nächsten zu entgehen, dann nach links. Wieder bückte ich mich.
Ein Huhn nach dem anderen flüchtete aus der Scheune. Fast konnte ich sie rufen hören: Wer ist das denn? Die hat das Tor nicht richtig aufgemacht! Wo ist Lydia? Was soll aus uns werden, wenn wir uns nicht mehr auf unsere Diener verlassen können?
Als die Aufregung sich gelegt hatte, die Ladys sich beruhigt hatten und wieder herumpickten, wagte ich mich weiter vor in ihr Reich. Lydia hatte mir am Vorabend erklärt, wo man die meisten Eier fand. Buntbemalte Bücherregale standen an den Wänden, ausgelegt mit Sägespänen und Stroh. Dort
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