Spiel mir das Lied vom Glück
hinein legten die Hühner ihre Eier. Tante Lydia verteilte immer Golfbälle in den Regalen, damit die Hühner glaubten, da sei schon ein Ei. Dann legten sie gerne noch eins daneben, behauptete sie.
Es macht den Hühnern Spaß, Tag für Tag Eier zu legen.
Wenn sie zu alt zum Eierlegen wurden, schenkte Lydia sie einem Verein, der Frauenhäuser und Obdachlosenunterkünfte mit frischgeschlachteter Hühnerbrust belieferte. Sie gab die Hühner nicht gerne fort und behielt sie oft noch, wenn sie schon lange keine Eier mehr legen konnten.
Wenn Lydias Freund Albert mit dem Lastwagen kam, um die älteren Hühner zur, wie sie es nannte, »Hühnerhackfabrik« zu fahren, half sie ihm beim Einladen, küsste die Tiere, drückte sie an sich und legte sich dann den Rest des Tages ins Bett, weinte und trauerte, als hätte sie ihre besten Freunde verraten.
Doch am nächsten Tag ging alles seinen gewohnten Gang. Habe ich schon erwähnt, dass Tante Lydia eine harte Geschäftsfrau ist?
Ich suchte also die Regale und Nester ab, dann hielt ich Ausschau nach sogenannten Eierdepots. Das sind Stellen, wo die Hühner heimlich ihre Eier legen. Tante Lydia fand immer wieder neue Verstecke.
Ich glaube, die Ladys haben gerne Geheimnisse. Sie legten die Eier mit Vorliebe in Schlupfwinkel oder Ritzen – zwischen oder hinter die Bücherregale, in dunkle Ecken –, aber irgendwann entdeckte Tante Lydia ihren Schatz immer. Dann hatten sich oft schon um die siebzig Eier angesammelt, und wenn Lydia sie hervorholte und in den Korb legte, liefen die Ladys umher und gackerten aufgeregt.
Ihre Tarnung war also aufgeflogen, aber die Ladys wussten, dass es gute Stellen waren, um sich zu erleichtern, und so machten sie einfach weiter.
Ich hörte, wie Lydia hereinkam.
»Julia, mein Schatz!«, rief sie. »Ich hab eben gesehen, wie dir die Hühner gegen den Kopf geflogen sind. Schade, dass ich keine Videokamera dabeihatte! Das wäre doch was gewesen! Mit so einem Film kann man im Fernsehen eine Million Dollar gewinnen! Die Ladys konnten es heute gar nicht erwarten, nach draußen zu kommen. Sie können es nie erwarten. Sie tun
ja nicht viel, nur das, was sie immer tun. Sie mögen die Regelmäßigkeit.« Ein Huhn pickte nach Lydias Hand, als sie sich das Ei nehmen wollte. »Ach, sei nicht so zickig, Tizzy.«
Lydia gab den Hühnern immer wieder neue Namen. So viele konnte sich eh niemand merken.
»So, bitte schön, Jesalynn«, sagte sie beruhigend und zog ein Ei unter einer anderen Spätaufsteherin hervor, die es nicht so eilig hatte, nach draußen zu kommen. »Dieses Huhn hier ist viel freundlicher, aber ich mag Tizzy trotzdem lieber.«
»Du magst Tizzy lieber?« In einem Regal entdeckte ich ein weißes Ei in einem kleinen Nest aus Stroh. Als ich das Stroh durchwühlte, fand ich noch ein Geheimdepot. Fünfzehn Eier wanderten in meinen Korb.
»Ja. Tizzy hat Temperament. Sie hat Esprit. Sie weiß, was sie will und was nicht. Wenn ihr etwas nicht gefällt, hackt sie zu. Doch. Ich mag sie.«
Wir betrachteten die beiden Ladys. Tizzy schüttelte leicht den Kopf, Jesalynn machte es sich in ihrem Nest bequem. »Wenn einer meint, Hühner hätten keinen Charakter, dann irrt er sich gewaltig. In dieser Scheune gibt es böse und liebe Hühner und alles Mögliche dazwischen. Es ist ein Mikrokosmos der Frauenwelt, nur dass die Ladys draußen kacken und menschliche Frauen ihre Eier nicht jeden Morgen aus ihren Eierstöcken auf den Boden fallen lassen.«
Ich nickte. »Wir Frauen behalten unsere Eier gerne bei uns.«
»Allerdings.«
Wir arbeiteten uns weiter durch die Scheune, vereint im Schweigen, vertraut und warm. Ich bürstete mir Stroh und zweifelsohne Hühnerdreck aus dem Haar, bückte mich dann unter ein Regal, um weitere Eier aufzuklauben.
»Ich musste mehr Hähne besorgen, seit du das letzte Mal hier warst. Meine Lektion mit den Hähnen habe ich schon vor Jahren gelernt. Wenn man zu viele Hähne hat, machen sie
den Hühnern das Leben zur Hölle, steigen den ganzen Tag auf sie drauf, treten meine Ladys in einem fort, hüpfen auf ihnen herum, und wenn sie fertig sind, laufen sie über sie hinweg. Fast jeder Hahn tritt den Ladys auf den Kopf, wenn er geht, und denkt sich nichts dabei.«
»Genau wie Männer«, murmelte ich vor mich hin.
»Allerdings! Manche Männer nehmen sich Zeit fürs Vorspiel, aber die meisten haben keine Lust dazu. Sie wären am liebsten Hähne: drüberrutschen und fertig.«
»Ich persönlich will nichts mehr mit Hähnen zu tun haben.
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