Spiel mir das Lied vom Glück
eine Heidenangst ein.
»Nein, ähm … ich … « Ich umklammerte das Lenkrad, und mein Herz pochte noch schneller. »Kann nicht. Ich muss … ähm, ich muss noch Zeitungen fertig machen. Ich meine, ich muss noch die restlichen Zeitungen austragen, und dann muss ich bei den Hühnern helfen. Amelia, Miss Clarice und Gräfin Kuku warten auf mich, und sie werden wirklich sauer, wenn sie nicht gefüttert werden, dann pickt mir Miss Clarice in die Finger … «
Oh, bitte, Julia, halt den Mund!
»Können sich Amelia, Miss Clarice und Gräfin Kuku denn nicht benehmen?«
»Ähm … ich … ja. Sie können sich nicht benehmen.« Wenn dieser Mann noch etwas länger so dastand, würde ich mich auch bald nicht mehr benehmen können. Die Angst war gewichen, jetzt wollte die Frau in mir heraus. Beim Anblick von Dean Garrett kribbelte es mir am ganzen Körper. Meine Brustwarzen wurden hart.
»Die Hühner sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, hm?«, sagte er. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben, als würde er schmunzeln.
Ich schüttelte den Kopf.
»Zu wie vielen Häusern müssen Sie noch?«
»Was?«
Warum mussten seine Schultern so verführerisch breit sein?
»Bei wie vielen Häusern müssen Sie noch Zeitungen ausliefern?«
Warum musste er so hohe, vorstehende Wangenknochen haben?
»Ich, ähm, ich bin durch. Sie sind der Letzte.«
Warum musste er so lange schwarze Wimpern haben?
»Oh«, machte er. »Sie sind durch? Sagten Sie nicht eben, Sie müssten noch weiter?«
Verdammte Hacke! Er hatte mich bei einer Lüge ertappt. Ich lüge nicht gern. Ich tue es nur ganz, ganz selten. Vielleicht bin ich nicht die hellste Birne im Kronleuchter, vielleicht verlobe ich mich mit Irren und verdrücke mich an meinem Hochzeitstag, aber ich bin keine Lügnerin. O Gott! Robert zu verschweigen, dass ich an unserem Hochzeitstag das Weite suchen würde, war das nicht eine Unterlassung und damit auch eine Lüge? Ich konzentrierte mich wieder auf Dean Garrett.
»Nein, ich bin fertig.«
»Gut! Dann können Sie ja bei mir frühstücken.«
»O nein. O Gott, nein.«
Die Heftigkeit meiner Reaktion schien ihn zu überraschen.
»Das war nicht so gemeint. Ich wollte nur sagen, dass ich auf gar keinen Fall … ich meine, nein, ich kann nicht bei Ihnen frühstücken.«
»Können Sie nicht?«, sagte er langsam und lächelte. »Können Sie nicht oder wollen sie nicht?«
Ich will nicht, weil ich dich dann immerzu ansehen müsste und mich fragen würde, wie wohl deine Lippen schmecken. »Ich kann nicht reinkommen. Ich muss gehen, wirklich.«
Er nickte. Er wirkte enttäuscht, aber später redete ich mir ein, ich hätte mir das nur eingebildet. Dean Garrett konnte jede Frau der Welt zum Frühstück haben. Nackt. »Verstehe.«
Aber er verstand es nicht. Das spürte ich.
Dann lächelte er mich an, und seine weißen Zähne strahlten im Dunkeln.
»Vielleicht morgen?«
»Nein, geht nicht.«
»Übermorgen?«
»Geht auch nicht.«
Er lächelte. Meine Haut kribbelte. Aber angenehm. »Trotzdem danke für die Einladung«, sagte ich.
Er nickte. Ich kurbelte die Scheibe des altersschwachen Pick-ups hoch und fuhr davon.
Und das hätte es gewesen sein müssen.
War es aber nicht. Zwei Wochen lang wartete Dean Garrett jeden Morgen draußen am Briefkasten auf mich. Wir unterhielten uns, unsere Gespräche wurden immer länger. Jeden Tag lud er mich ein, mit ihm zu frühstücken. Jeden Tag lehnte ich mit wackligen Knien ab, nicht nur aus genereller Angst vor Männern, sondern weil ich Angst vor mir selbst hatte.
Doch eines Tages erklärte ich mich einverstanden.
Nun, so ausdrücklich kam es nicht aus mir heraus. Aber mein Verhalten sagte es. Dean schenkte mir einen Strauß von Wildblumen, genau die Blumen, von denen ich ihm zuvor vorgeschwärmt hatte. Dazu bekam ich eine wunderschöne
rosa Häkelmütze mit passenden Handschuhen, weil ich ihm erzählt hatte, wie kalt es beim Zeitungsaustragen sei.
Dean öffnete die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Julia, ich muss morgen nach Portland. Ich bin zwei Wochen lang weg. Das heißt, zwei Wochen lang musst du dich nicht mehr an meinem Briefkasten ansprechen lassen, aber ich schwöre dir, dass ich auf meinen Posten zurückkehre, sobald ich wieder hier bin. Deshalb tu mir doch bitte den Gefallen und komm zum Frühstücken mit ins Haus. Ich sorge für alles. Und räume anschließend auf. Du kannst dich entspannen.«
Ich grinste, lachte, und dann – am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden
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