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Spiel mir das Lied vom Glück

Spiel mir das Lied vom Glück

Titel: Spiel mir das Lied vom Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathy Lamb
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anscheinend ohne Punkt und Komma.
    »Genug!« Ms. Cutter erhob sich zu voller Größe: ein Meter zweiundachtzig plus Absätze. Abwehrend hielt sie die Hand keine dreißig Zentimeter vor mein Gesicht. Sie hatte eine männliche Kurzhaarfrisur, eine lange Nase und den kältesten Blick, den ich je gesehen hatte.
    »Bitte, Ms. Bennett, ich habe keine Zeit für Ausreden. Ich habe zu tun. Ihre Aufgabe ist es, die Bücher zurückzustellen, wie besprochen. Wenn viel zu tun ist, können Sie mit mir an der Ausleihtheke arbeiten. Seien Sie bitte so leise wie möglich! Ihre Schuhe sehen aus, als würden sie zu viel Lärm verursachen. Tragen Sie Gummisohlen! Tragen Sie keine raschelnde Kleidung. Tief ausgeschnittene Pullis und enge Hosen sind tabu! Lassen Sie sich nicht in der Bibliothek von Ihrem Freund
besuchen. Lassen Sie Ihre Privatprobleme zu Hause, ich bin weder Ihre Mutter noch Ihre Therapeutin. Vermeiden Sie – Ist das vielleicht komisch, Ms. Bennett?«
    O ja, allerdings! Als mir Ms. Cutter freundlicherweise in Erinnerung rief, sie sei nicht meine Mutter, stellte ich mir die Bibliothekarin unwillkürlich in einem der knappen roten Kleider meiner Mutter vor, die den Blick auf die Oberschenkel freigaben und den Busen praktisch bis unters Kinn drückten.
    Die Vorstellung war durchaus komisch.
    »Nein, es ist nicht komisch. Überhaupt nicht.«
    »Gut.« Ms. Cutter verschränkte die langen Arme und starrte mich über ihre Adlernase hinweg an. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. »Dann machen Sie sich an die Arbeit!«
    Beim Bewerbungsgespräch hatte Ms. Cutter mir gesagt, sie sei der Meinung, Kinder sollten sich nicht längere Zeit in einer Bücherei aufhalten, daher müsse der ihnen vorbehaltene Raum auch nicht besonders groß sein. »Die Kinder in dieser Stadt sind laut und unordentlich. Völlig respektlos.«
    Roxy Bell erzählte mir, anfangs habe Ms. Cutter selbst die Lesestunde geleitet. Sie hätte den Kindern aus Klassikern vorgelesen, was sie zum Gähnen langweilig fanden.
    Es kamen kaum noch Kinder in die Lesestunde.
    Am ersten Tag, als ich dort war, tauchte nur ein Kind auf, ein Junge namens Shawn. Er erzählte mir, seine Schwester sei krank, er brauche ein Buch, aus dem er ihr vorlesen könne.
    Nein, seine Mutter sei nicht zu Hause. Schon seit einigen Tagen nicht.
    Shawn hatte ein blasses Gesicht und ungewaschenes Haar und war schmächtig. Seine Sachen waren ihm zu klein. Nackte Zehen lugten aus seinen Schuhen, über die Schulter hing ein verschlissener Rucksack. Mehr als ein genuscheltes »Hallo« bekam er nicht heraus. Ich lächelte ihn an. Keine Reaktion. Ich hielt ihm die Hand hin, um mit ihm in die Kinderecke zu
gehen. Er vergrub die Hände in den Taschen. Ich fragte ihn, ob er Bücher möge. »Carrie Lynn mag Bücher«, erwiderte er.
    Ich half Shawn, einige Bücher auszusuchen, dann bot ich ihm an, etwas vorzulesen. Zuerst zögerte er, weil seine Schwester krank zu Hause war. »Aber sie ist eben eingeschlafen, als ich gegangen bin, vielleicht können wir ein bisschen lesen.« Er schaute zu mir auf. Seine Augen waren von einem trüben Grün. »Wenn Sie wollen. Wenn Sie sonst nichts zu tun haben.«
    Ich versicherte ihm, das sei nicht der Fall. Außerdem sei ja gerade Lesestunde, oder? Also setzte ich mich mit dem Jungen hin. Shawn war neun Jahre alt und konnte kaum lesen, deshalb las ich ihm ein Buch nach dem anderen vor. Am Ende half ich ihm beim Lesen. Ich hatte ein sehr einfaches Buch ausgesucht, um sein Selbstbewusstsein zu stärken, doch er mühte sich mehr schlecht als recht hindurch. Es machte mich traurig, wie schlecht er las.
    Kaum war die Stunde verstrichen, tauchte Ms. Cutter mit kerzengeradem Rücken auf. Wie es sich wohl anfühlte, den ganzen Tag den Hintern zusammenzukneifen, fragte ich mich. »Die Lesestunde ist vorbei, Shawn. Du kannst gehen.« Ihr Blick war so kalt, dass mir jedes Haar gefror. Shawn machte dasselbe verkniffene, besorgte Gesicht wie zuvor, als er hereingekommen war.
    »Los, komm, Shawn! Ms. Bennett hat eine Menge zu tun. Julia, ich erwarte, dass diese Bücher ordentlich eingeräumt werden. Danach können Sie mit dem Stapel auf meinem Schreibtisch weitermachen.«
    »Hat mir viel Spaß gemacht, mit dir zu lesen, Shawn«, sagte ich zu dem Jungen und half ihm, den Rucksack aufzusetzen. Dann reichte ich ihm mehrere Bücher. »Komm doch morgen wieder! Dann lesen wir noch ein bisschen, und du kannst üben. Dein Lehrer freut sich bestimmt, wenn du nach den Sommerferien viel

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