Spiel mir das Lied vom Glück
Schwester vor und schob seinen Rucksack hin und her. »Sie ist schüchtern.«
Carrie Lynn warf mir einen kurzen Blick zu, dann sah sie zu Boden.
»Aber sie ist wirklich lieb, Miss Bennett. Und sie mag Bücher. Zu Hause haben wir eins über Aschenputtel, da guckt sie jeden Tag rein, stimmt’s, Carrie Lynn?«
Carrie Lynn nickte, dann versteckte sie sich hinter ihrem Bruder. Ich sah, dass ihre Klamotten ebenso schmutzig waren wie die ihres Bruders.
»Ich freue mich wirklich, dich kennenzulernen, Carrie Lynn«, sagte ich und kniete mich neben sie, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Am liebsten hätte ich beide Kinder in den Arm genommen. Was für Eltern ließen bloß zu, dass ihre Kinder so tief sanken?
Ach, ich wusste es ja längst.
Eltern wie meine Mutter.
Auch ich hatte damals Löcher in den Schuhen gehabt. Ich kann mich erinnern, wie die anderen Kinder sich über meine schmutzige Kleidung lustig machten. Mein Haar war so verfilzt, dass ich es nicht bürsten konnte. Und genau wie Carrie Lynn
trug ich eine schmuddelige Decke mit mir herum. Wo wir auch wohnten, ich flüchtete mich immer in die öffentliche Bücherei. Schon im Alter von vier Jahren verbrachte ich Stunden in der Bibliothek. Wir wohnten nur einen Häuserblock weiter.
Als ich am ersten Tag dorthin ging, fragte mich die Bibliothekarin, wo meine Mutter sei. Ich sagte, ich wisse es nicht. Sie rief die Polizei, meine Mutter tauchte auf und sagte zu der Bibliothekarin, ich könne in die beschissene Bücherei gehen, wann ich wolle, und wenn sie noch einmal die Bullen riefe, würde es ihr verdammt leidtun. Dann gab mir meine Mutter eine Backpfeife, weil ich ihr Ärger gemacht hatte, und zerrte mich nach draußen. Sie roch nach Alkohol.
Danach empfing die Bibliothekarin mich immer mit offenen Armen. Die Freundlichkeit von Mrs.Zeebak habe ich nie vergessen, auch nicht die nette Art der anderen Bibliothekarinnen in meinem späteren Leben.
»Du magst also Bücher, Carrie Lynn?«
Das Mädchen nickte.
»Was für Bücher denn?«
Sie schaute zu ihrem Bruder auf und wollte sich hinter ihm verstecken.
»Sie mag Bücher über Aschenputtel. Bücher über Tiere wahrscheinlich auch.«
»Tiere?« Ich lächelte Carrie Lynn an. »Die mag ich auch am liebsten! Aber ich bin natürlich auch ein großer Fan von Aschenputtel. Sollen wir uns hinsetzen und von beiden Sorten etwas lesen? Und was möchtest du heute hören, Shawn?«
»Das kann Carrie Lynn entscheiden. Ich hatte ja gestern schon Zeit mit Ihnen.«
Es schnürte mir die Kehle zu. Shawn legte den Arm um Carrie Lynns zerbrechliche kleine Schultern.
Wir lasen und lasen. Zwei Bücher über Prinzessinnen und zwei über Tiere. Dann holte ich eine Fibel, und wir übten lesen. Carrie Lynn war nicht so gut wie Shawn.
Als der Geier kam und streng auf die Uhr zeigte, war ich bestens vorbereitet. Ich legte die Bücher beiseite, nahm die Kinder bei der Hand und brachte sie zur Tür, wobei ich unablässig mit ihnen plauderte. Ich schlug ihnen vor, am nächsten Tag wiederzukommen.
»Danke, Miss Bennett«, sagte Shawn.
Carrie Lynn schaute durch ihre zerzausten blonden Haare zu mir auf. Ich glaube, ich sah ein schwaches Lächeln.
Dann waren sie fort, gingen zurück in die Wohnung in der Nähe der Bücherei. Zurück zu Eltern, denen es offenbar gleichgültig war, dass die Schuhe ihres Sohnes so große Löcher hatten, dass die Einsamkeit hineinsickerte und dass sich ihre Tochter ein schmieriges Tuch über den Kopf zog, weil sie am liebsten unsichtbar gewesen wäre. Das Mädchen wie der Junge hatten den leeren, verzweifelten, unterdrückten Blick von Kindern, die nie umarmt wurden und viele Geheimnisse hatten. Woher ich das wusste? Weil es bei mir genauso gewesen war. Ich war Carrie Lynn und Shawn.
An jenem Tag fuhr ich nach Hause, half bei der Arbeit auf dem Hof, machte Tostados für Tante Lydia und mich und bereitete dann, traurig wegen Shawn und Carrie Lynn, stundenlang Nachspeisen zu: Schokoladen-Amaretto-Pfirsiche, Birnen im Schokoladenmantel und Schoko-Johannisbeertorte.
Nach ungefähr drei Stunden Schlaf machte ich meine Zeitungsrunde, fuhr bei Dean Garrett vorbei, stellte fest, dass er mir fehlte, und half Tante Lydia wieder auf dem Hof. Am Nachmittag ging es aufs Neue in die Bibliothek.
Um Punkt ein Uhr tauchten Shawn und Carrie Lynn auf, Shawn mit seinem Rucksack und Carrie Lynn mit ihrem Schmuddeltuch. Auch am nächsten und übernächsten Tag kamen sie. Tag für Tag las ich eine Stunde mit den beiden, auch wenn
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