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Spiel mir das Lied vom Glück

Spiel mir das Lied vom Glück

Titel: Spiel mir das Lied vom Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathy Lamb
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der Geier noch so vernichtend guckte.
    Wir lasen Märchen, obwohl Shawn so tat, als fände er sie albern. Wir lasen Bücher über Erdbeben, Hurrikans und Sportler.
Wir lasen Bücher über Steine und Mineralien, übers Wetter und über das Leben in einem Planwagen auf dem Oregon Trail. Wir lasen Bücher über die Sterne, die Evolution, über Drachen und über Jungen, die in der Schule Ärger bekamen. Wir lasen einfach alles.
    Und die Kinder mussten mir vorlesen.
    Innerhalb weniger Wochen hatte Shawn enorme Fortschritte gemacht, und auch Carrie Lynn beherrschte die wichtigsten Wörter. Sie las mir aus Büchern vor, sprach aber nicht mit mir.
    Eines Nachmittags fragte ich Shawn, was denn in dem Rucksack sei, den er immer bei sich trage. Darin waren eine zerdrückte Wasserflasche, ein Apfel, ein fleckiges T-Shirt, ein Sweatshirt für ihn und ein Pulli und Rock für Carrie Lynn. Ich kannte die Sachen. Alles war schmutzig. Selbst der Rucksack stank.
    Nur zu gut konnte ich mich an diesen Geruch erinnern. Ich hätte weinen können.
    Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass der Staat Eltern nicht das Sorgerecht entzog, nur weil ihre Kinder müde und schmutzig waren, aber ich konnte nicht untätig daneben stehen. Deshalb schmuggelte ich jeden Tag etwas zu essen in die Bücherei: Äpfel von Tante Lydias Bäumen, hartgekochte Eier mit einem kleinen Behälter Salz, für jedes Kind zwei Sandwiches mit Erdnussbutter und Gelee, zwei Flaschen mit Saft und, was sie am liebsten mochten, meine Schokolade. Wenn wir lasen, steckte ich ihnen immer ein paar Pralinen zu. Dann leuchteten ihre süßen, müden, sorgenvollen Gesichter.
    Mit Hilfe einiger wohlüberlegter Fragen erhielt ich stückweise Auskunft über ihr Leben. »Ihr beide seht heute müde aus, Shawn. Seid ihr gestern Abend spät ins Bett gekommen?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Die Freunde von meiner Mutter wollten nicht schlafen. Die waren die ganze Nacht auf.«
    Oder ich fragte: »Shawn, was habt ihr beide gestern nach der Lesestunde gemacht?«
    »Nicht viel. Meine Mutter war nicht da, deshalb bin ich mit Carrie Lynn in der Wohnung geblieben. Als Bingham kam, sind wir in den Park gegangen und haben geschaukelt.«
    »Wann seid ihr nach Hause gegangen?«
    »Weiß nicht. War schon dunkel. Außer uns war keiner mehr im Park. Carrie Lynn war kalt, obwohl sie ihr Tuch um die Schultern hatte. Können wir jetzt was über Flugzeuge lesen?«
    »Wer ist Bingham?«
    »Der Freund von meiner Mutter. Können wir jetzt bitte was über Flugzeuge lesen?« Manchmal bekam er einen bekümmerten Gesichtsausdruck, und Carrie Lynn gab solch traurige Geräusche von sich, dass ich Zuflucht bei den Büchern suchte.
    Die Namen der Freunde ihrer Mutter änderten sich regelmäßig. Shawn konnte nie viel über sie sagen. »Meine Mama meint, ich soll nicht mit ihren Freunden reden. Sie sagt, die wollten nichts mit uns Blagen zu tun haben.«
    Shawn sagte das ohne jeden Unmut, auch schien er »Blag« nicht für ein Schimpfwort zu halten. Eine reine Tatsache.
    Mir fiel auf, dass Shawn und Carrie Lynn montags besonders viel Hunger hatten. Daher packte ich ihnen zum Wochenende größere Pakete mit Lebensmitteln. Auch montags brachte ich ihnen etwas mit. Außerdem kaufte ich ihnen neue Zahnbürsten, einen Kamm, eine Bürste und Shampoo.
    »Ich habe Carrie Lynn zwei Stunden das Haar gebürstet, bis alle Knoten raus waren«, berichtete mir Shawn am nächsten Tag. »Guck mal, wie schön es jetzt aussieht.«
    »Wunderschön!« Mir versagte die Stimme, als ich mir vorstellte, wie Shawn seiner Schwester zwei Stunden lang das Haar gebürstet hatte. »Wunderschön.«

12
    Was ist mit deinem Arm?«, fragte ich Shawn.
    Carrie Lynn weinte, hielt Shawns Hand fest und zog sich mit der anderen Hand das Tuch über den Kopf. Shawn blickte starr geradeaus. »Ich will lesen«, sagte er lediglich, entzog sich mir und setzte sich auf den Boden. Sein rechter Arm war mit blauvioletten Flecken übersät. Carrie Lynn krabbelte auf seinen Schoß, die Decke über dem Kopf.
    »Darf ich mal deinen Rücken sehen?«, fragte ich und hob sein Hemd, bevor er nein sagen konnte. Auch bei Carrie Lynn schaute ich nach, dann fing ich schnell an zu lesen. Shawn und Carrie Lynn kuschelten sich an mich. Mir war übel. Die Rücken der Kinder waren voller Blutergüsse.
    Als sie fort waren, rief ich das Jugendamt an. Dort war man sehr höflich: Man würde jemanden herausschicken, es hätten sich schon andere Leute wegen der Kinder gemeldet.
    Am dritten Tag

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