Spiel mir das Lied vom Glück
Stashs warmer, besorgter Blick. Ich sackte zusammen und hörte, wie er mit schroffer Stimme nach Tante Lydia rief. Dann nahm er mich auf den Arm und trug mich ins Haus.
Ich war zu erschöpft, um mich zu wehren, zu erschöpft von der Angstkrankheit, um zu widersprechen, als Stash mich in mein Zimmer trug und aufs Bett legte. Ehe ich die Augen schloss, sah ich Tante Lydias leichenblasses Gesicht. »Ach, du liebe Güte, was ist passiert, Stash? Was ist los, mein Schatz?«
Ich versicherte ihr, es gehe mir gut. Mir sei lediglich ein wenig schwindelig geworden, ich hätte in letzter Zeit nicht gut geschlafen, sei ein bisschen gestresst, hätte nicht richtig gefrühstückt. Natürlich sei alles in Ordnung, sicher. Alles sei gut.
Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Nichts war gut.
Ich bekam nicht viel Geld fürs Zeitungsaustragen. Daher suchte ich so lange nach einer weiteren Aufgabe, bis ich eine Stelle in der öffentlichen Bücherei von Monroe fand, zwei Städte weiter. Vier Stunden am Nachmittag. Ich sollte eine Lesestunde für kleine Kinder abhalten, Bücher einsortieren und an der Ausleihtheke helfen. Das Bewerbungsgespräch hatte ich mit fünf Mitgliedern des Komitees, das die Bücherei beaufsichtigte.
Die fünf stellten mir viele Fragen: ob ich gut mit schwierigen Leuten zurechtkäme, ob ich Geduld mit Kindern hätte, ob ich Probleme mit schwierigen Menschen hätte, ob ich Kindern gerne Geschichten vorläse, ob ich etwas dagegen hätte, mit
schwierigen Personen zu arbeiten, und, ach ja: Wie käme ich wohl mit schwierigen Leuten zurecht?
Ich sah die Mahnung an der Wand, aber wollte die Stelle unbedingt haben. Daher gab ich die erwarteten Antworten: Ja, ich käme gut mit schwierigen Leuten klar, hätte Geduld mit Kindern, läse ihnen gerne Geschichten vor, ja und abermals ja. Mit schwierigen Leuten auskommen? Kein Thema.
Ich bekam den Job.
An meinem ersten Tag in der Bücherei von Monroe erzählte mir die stellvertretende Bibliothekarin Roxy Bell, das Mädel vor mir hätte gekündigt, weil sie nicht mit der Vorgesetzten zurechtgekommen sei. Bei der Frau davor sei es ebenso gewesen, bei der davor auch, und die hätte drei Kinder, aber keinen Mann gehabt und die Stelle wirklich nötig.
»Sie hat am Schluss gesagt, am liebsten würde sie Ms. Cutter mit dem Beil umbringen, das ihr Ex liegengelassen hat, aber sie könnte nicht ins Gefängnis, weil ihre Kinder noch so klein wären«, erzählte Roxy Bell mir. Sie hatte weiße Locken und das liebste Gesicht, das ich je gesehen hatte. »Ich arbeite hier nur noch, weil ich mein Hörgerät immer runterdrehe, wenn Ms. Cutter kommt. Dann nicke ich höflich, egal was sie sagt, das heißt, wenn sie sich überhaupt dazu herablässt, mit mir zu sprechen. Kommt nämlich nicht oft vor. Ich sehe mir einfach an, wie sich ihre Lippen öffnen und schließen, und nicke freundlich, und wenn sie sich beim Verwaltungsrat über mich beschwert, macht das nichts, weil meine Tante und die beste Freundin meiner Schwester drin sitzen und ich hierbleibe, bis ich eines Tages neben den Enzyklopädien abkratze, aber Sie, meine Liebe, Sie müssen aufpassen. Ms. Cutter ist eine Schlange, sie mag keine Kinder und hat es hier gerne dunkel.«
Roxy Bell sprach offenbar ohne Punkt und Komma.
Ich sah mich in der Bücherei von Monroe um. Das Gebäude war klein und lag im Zentrum. Es verbreitete die Atmosphäre einer Leichenhalle.
Bücherregale zogen sich der Länge nach durch den Raum, dazwischen standen Tische. Vor den geschlossenen Fenstern hingen beige Vorhänge. Das Licht war heruntergedreht. Die Wände waren schmutzig weiß, die Luft war abgestanden. Die Abteilung für Kinder war winzig. Es gab keine Sitzsäcke, keine Poster oder Bilder. Es war lediglich eine Ecke der Bibliothek, und zwar eine dunkle.
Ms. Cutter und ich hatten keinen guten Start an meinem ersten Tag. »Sie sind zwei Minuten zu spät«, verkündete sie, als ich die Bücherei betrat.
Sofort fühlte ich mich wie ein kleines Mädchen. Wie ein dickes, unbeholfenes, linkisches kleines Mädchen. Das zu spät kam. Rund zwei Minuten. Sofort begann ich, mich wortreich zu entschuldigen: »Es tut mir wirklich leid, Ms. Cutter, aber ich habe keinen Parkplatz gefunden, und Sie wollen ja, dass wir nicht direkt bei der Bücherei parken, damit die Stammkunden einen Platz haben, deshalb musste ich schließlich am anderen Straßenende parken, bin auf dem Weg hierher falsch abgebogen, es tut mir wirklich leid … « Auch ich redete
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