Spiel mir das Lied vom Glück
war, konnte ich vor lauter Krach nicht schlafen.
Ansonsten mochte ich Taryn. Er sagte mir »Guten Morgen« und »Gute Nacht«, kaufte Nahrungsmittel und zahlte unsere Rechnungen. Manchmal schenkte er mir fünfzig Dollar, und hin und wieder trat er sogar für mich ein, wenn meine Mutter aus irgendeinem Grund sauer auf mich war.
»Reg dich ab«, sagte er dann zu ihr. »Reg dich ab! Sie ist doch noch ein Kind.« Ich ging in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und wiegte mich in den Schlaf. Wenn ich merkte, dass ich schreien musste, biss ich in einen Strumpf.
Taryn fasste mich nie an. Musterte mich auch nie mit diesem bestimmten, unheimlichen Blick.
Zu Weihnachten schenkte er mir neue Bettwäsche – eine Steppdecke aus einem Quilt mit zwei passenden Kopfkissenbezügen, zwei neuen Kopfkissen und einer weißen Bettumrandung. Ich liebte die Wäsche heiß und innig, es war das einzig Neue, das ich seit langer Zeit bekommen hatte. Doch als meine Mutter Taryn für Scotty abservierte, einen Riesen, der in meinen Augen wie ein Monster aussah, musste ich den Bettbezug hergeben, weil er sie an Taryn erinnerte.
Obwohl ich meine Mutter anflehte und versuchte, die Bezüge zu retten, verbrannte sie die Laken im Kamin. Scotty musste mich festhalten, während ich zusah, wie die Steppdecke knisterte und sich aufrollte, wie die Bettbezüge schrumpften und in den tobenden Flammen zu einer schwarzen Masse wurden.
In der ersten Nacht ohne meinen Bettbezug wirkten die Decken älter und zerschlissener als je zuvor. Ich zog mir drei Lagen Kleidung an, weil ich fror. Meine Mutter war in irgendeiner Kneipe, hatte mir aber vorher eingeschärft, bloß nicht die Heizung anzustellen. Ich rollte mich unter einem alten Mantel zusammen, den mir ein Lehrer vor zwei Jahren geschenkt hatte, und schlief ein.
Oft tobte Scotty zu Hause herum. Deshalb machte ich es mir zur Gewohnheit, zeitig zur Schule zu gehen. Jeden Morgen frühstückte ich dort mit einer netten Köchin namens Kathleen. Sie sorgte dafür, dass ich immer genug zu essen bekam. Dann ging ich in mein Klassenzimmer und half dort bei der Unterrichtsvorbereitung. Nach der Schule machte ich meine Runden, fragte diesen oder jenen Lehrer, ob ich helfen könne, und sog jedes Lob und jedes Dankeschön in mich auf wie ein Schwamm. Als der letzte Lehrer gegen halb sechs gegangen war, begab ich mich in die Bibliothek und las dort. Lehrer und Bibliotheken retteten mir das Leben.
Ich aß, was die Köchin Kathleen mir eingepackt hatte, und machte mich dann auf den Heimweg in der Hoffnung, meine Mutter nicht zu sehen. Ungefähr jedes zweite Mal hatte ich Glück.
Immer wenn ich mich unserer jeweiligen Wohnung näherte, bekam ich Bauchschmerzen, je nachdem welcher Mann gerade bei uns lebte.
Ich seufzte. Tante Lydia hielt inne, ich ebenfalls. Wir schauten uns über die Kochinsel in der Küche an. Das Mondlicht fiel herein. »Ich hoffe, dass du mir eines Tages vergeben kannst«, sagte Lydia, und ihre Unterlippe bebte. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Da ist nichts zu vergeben, Tante Lydia.« Wirklich nicht. Mit sechzehn zog ich aus dem rattenverseuchten Apartment, in dem ich mit meiner Mutter wohnte. Mit Hilfe einer Betreuerin, die eine ähnliche Kindheit wie ich durchgemacht
hatte, beantragte ich die vorgezogene Volljährigkeit. Ich durfte so gut wie kostenlos wohnen, in der Schule essen und bekam Lebensmittelmarken. Ich fand die Unterstützung demütigend, hatte aber keine andere Wahl. Tagsüber ging ich zur Schule, anschließend kellnerte ich, vierzig Stunden pro Woche.
Ich hätte zu Tante Lydia gehen können, sie flehte mich fast täglich an, nach Oregon zu kommen, aber ich wollte in der Schule bleiben. Dort war ich bereits seit zwei Jahren, und ich mochte die Lehrer und Mitschüler. Ich hatte das Gefühl, dass man sich dort um mich bemühte, um mich kümmerte. Kaum war ich in meine Wohnung eingezogen, kamen Möbel. Lebensmittel. Kleidung. Nach den Sommerferien ein neuer Tornister mit allen nötigen Schreibwaren. Weihnachtsgeschenke. Die Leute ließen mich nicht im Stich.
Freunde hatte ich allerdings keine. Nicht dass meine Mitschüler es nicht versucht hätten. Die Jugendlichen an der High School waren nett zu mir. Aber wenn man durchgemacht hat, was ich erlebt hatte, wenn man sich schmutzig fühlte von all den Männern, die einen am ganzen Körper mit ihren Händen und anderen Teilen berührt hatten, wenn man eine Mutter hatte, die regelmäßig im Alkoholwahn tobte, wenn man fast immer Hunger
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