Spiel mir das Lied vom Glück
und Angst hatte und man sich fühlte, als würde man jeden Moment durchdrehen, dann versetzte das der Fähigkeit, Freundschaften aufrechtzuerhalten, schon einen kleinen Dämpfer, falls man das so sagen kann.
Meine Aufgabe war zu überleben. Ich kaufte Secondhand-Klamotten. Ich schnitt Rabattmarken aus. Ich sparte das ganze Geld vom Kellnern, weil ich immer eine Heidenangst hatte, im Notfall kein Geld für Essen zu haben. Die Angst vorm Hungern verfolgte mich, ich nahm zu. Eine Zeitlang fühlte ich mich besser. Gewichtszunahme bedeutete, dass ich aß. Essen bedeutete Nahrung. Regelmäßigkeit.
Doch schon bald hatte ich das Gefühl, so groß wie ein Getreidesilo zu sein.
Meinen Frust bekämpfte ich mit guten schulischen Leistungen und bekam Bestnoten. Ich arbeitete buchstäblich, bis ich abends über meinen Büchern einschlief. In den ersten Monaten der vorgezogenen Volljährigkeit hatte ich keine Zeit zum Grübeln.
Warum sollte ich auch viel nachdenken? Meine Mutter hatte mich dem Staat überschrieben. Sie hatte mich fortgegeben. Ohne Tränen, ohne Entschuldigung, einfach so. Ich war ein Nichts.
Und obwohl ich mir nach einigen Monaten des Alleinlebens eingestehen musste, dass es angenehm war, in eine sichere Wohnung heimzukehren, die sauber und aufgeräumt war, in der keine ekligen Männer mit schwitzenden Händen und schweren Körpern warteten, in der keine tobende Mutter schrie, ich sei dumm und dick, so war der Umstand, dass meine Mutter mich nicht wollte und nicht davor zurückschreckte, mich loszuwerden, ein ungeheurer Schlag für mich.
Ich machte meinen High-School-Abschluss und bekam ein Vollstipendium für ein angesehenes College, weil ich wie eine Besessene lernte, um mir meine Mutter aus dem Kopf zu schlagen. Ich knackte den Zugangstest. »Hast du noch irgendwo ein zweites Gehirn versteckt?«, fragte meine Betreuerin und schüttelte den Kopf über mein Ergebnis. »Oder ein drittes? Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du unglaublich gut bist?«
Den Sommer verbrachte ich bei Tante Lydia, wo ich mir einzureden und vorzumachen versuchte, ich sei ein ganz normaler Mensch. Dann flog ich mit ihrer Mahnung zurück nach Boston: Die Kraft einer Frau liegt in ihrem Östrogen. Finde dein Östrogen, umarme es, schwebe damit. Sei dein eigenes Östrogen, Julia. Du hat die Kontrolle, mein Mädchen, und ich bewundere dich.
Auf dem College fühlte ich mich wie ein Erdferkel unter Pfauen. Ich war dick und alles andere als elegant. Ich stammte
nicht von einem reichen Vater mit Zahnpastalachen ab und war noch nie auf einer Yacht gewesen. Und ich hatte meine Geheimnisse. Sie standen zwischen mir und den anderen Mädchen. Alle feierten wie die Wilden und schliefen mit allen Typen, die nicht schnell genug auf den Bäumen waren, aber man wusste, sobald sie den Campus hinter sich ließen, würden sie feine Damen der Gesellschaft sein.
»Ich will jetzt so viel Sex wie möglich haben«, erklärte mir eine. »Denn wenn ich verheiratet bin, muss ich mich mit einem Penis zufriedengeben. Glaubst du, das geht, Julia? Sich mit einem Penis zufriedengeben? Fünfzig Jahre lang?«
Ich erwiderte, das sei eine schwierige Frage.
Sie nickte. »Wahrscheinlich muss ich mir den einen oder anderen Schwanz nebenbei halten, Julia. ›Geheimschwänze‹ sozusagen. Zum Spaß und zur Abwechslung und als Ausnahme von der Regel, dass verheiratete Frauen nur einen Penis haben dürfen.«
Auf unverbindliche Weise waren die Mädchen meistens nett, auch wenn sie mich oft betrachteten wie ein wissenschaftliches Experiment, eine Petrischale mit rosa Organismen. Und sie liebten meine Schokoladenschmankerl. Sie konnten nicht verstehen, warum ich so viele Kurse belegte, und fanden meinen Kellnerjob »drollig«.
»Ist echt sensationell, dass du die niederen Schichten kennenlernst, Jules«, sagte meine Mitbewohnerin Tabatha zu mir. »Wirklich sensationell. Macht sich auch gut auf deinem Lebenslauf. Dann nimmt man dir ab, dass du weißt, wie man mit armen Leuten umgeht. Hat während der gesamten Schulzeit gearbeitet, so ähnlich. Die Idee ist super, auch wenn es öde ist. Das Arbeiten, meine ich.«
Während ich mich auf dem College mit meiner Mutter und meiner Kindheit auseinandersetzte, wurde ich noch dicker. Mit Männern ging ich nicht aus. Ich hatte Angst vor ihnen, oft widerten sie mich sogar an. Eine Zeitlang fragte ich mich, ob
ich lesbisch sei, doch da mir bei der Vorstellung, eine andere Frau zu berühren, übel wurde, hakte ich das ab. Ich wollte
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