Spiel mir das Lied vom Glück
einfach keinen Mann in meiner Nähe, auch wenn sie nicht gerade vor meiner Tür Schlange standen.
Nach meinem Collegeabschluss in Kunstgeschichte bekam ich mit Hilfe einer meiner Lehrer die Stelle in einer Kunstgalerie und hatte später die Ehre, Robert kennenlernen zu dürfen.
Ich schaute zu Tante Lydia hinüber. Sie wischte sich mit beiden Händen über die Augen und schmierte sich dabei Schokolade auf die Wange.
Tante Lydia weinte so gut wie nie. Von uns beiden war ich auf jeden Fall näher am Wasser gebaut.
Lange standen wir beide da. Manchmal tut das Leben so weh, dass man nicht mehr sprechen kann. Deshalb sang ich meine Gedanken mit leiser, rauer Stimme: »I neeeeed your love … I waaaaant your love.« Ich sang so lange, bis Lydia ihren Tränen lachend freien Lauf ließ und sie wie kleine Bäche ihre Wangen hinunterliefen. Dann fiel sie in mein Lied ein. Eine Weile tanzten wir durch die Küche, die Hände in der Luft, wackelten mit dem Hintern, wiegten uns in den Hüften, dann machten wir uns im weißen Licht des Mondes wieder an die Arbeit.
13
Als ich am nächsten Tag die Bücherei verließ, wartete Brandy, die Mutter von Shawn und Carrie Lynn, auf mich. Sie war um die fünfundzwanzig, stark geschminkt und hatte strähniges blondes Haar. Brandy war erschreckend dünn. Ihre Hände zitterten, im Gesicht hatte sie wunde Stellen. Sie grinste breit und gekünstelt, wie eine Clownpuppe.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, fuhr sie mich mit ihrem Grinsen an. Mit beiden Händen kratzte sie sich fortwährend den Rücken.
»Mrs.Coleman –«
»Ich bin nicht Mrs.Coleman, blöde Kuh, und hör auf, uns die Polizei auf den Hals zu hetzen!« Sie hielt Shawns Arm umklammert; Carrie Lynn drückte sich hinter ihren Bruder und griff nach seiner Hand. Shawn hielt den Blick gesenkt. »Du hast keine Ahnung, was hier los ist, also kümmer dich um deinen eigenen Scheiß, Mädel, kapierst du das?«
Ich schaute sie an. Rührte mich nicht, nickte nicht. Nein, ich »kapierte es nicht«, wollte ich sagen. Aber »kapieren Sie vielleicht«, dass Ihr Sohn blaue Flecken hat? Und Carrie Lynn? Kapieren Sie, dass sie sich vor Ihnen zu Tode fürchtet? Kapieren Sie, dass die beiden Hunger haben? Dass Ihre Kinder schmutzige Kleidung tragen?
Doch ich sagte nichts dergleichen. Frauen wie Brandy kannte ich nur zu gut. Sie war die Reinkarnation meiner Mutter, nur als Drogenabhängige.
»Tut mir leid«, sagte ich und gab mich zerknirscht. »Ich
glaube, Sie sprechen mit der Falschen, was die Sache mit der Polizei angeht. Ich habe die Polizei nicht gerufen. Ich mache mit den Kindern nur die Lesestunde in der Bücherei.«
»Wollen Sie behaupten, Sie waren das nicht mit der Polizei?« Sie kniff die Augen zu schmalen, hasserfüllten Schlitzen zusammen.
»Nein. Warum sollte ich auch?« Ich riss die Augen weit auf und versuchte, so unschuldig wie möglich dreinzuschauen.
»Weil Sie die einzige Erwachsene sind, mit der die Blagen zu tun haben. Shawn und Carrie Lynn gehen ständig in die dämliche Bücherei, zu der alten Hexe.«
»Nun, ich war es jedenfalls nicht. Wie war nochmal Ihr Name?« Ich reichte ihr die Hand. Brandys Hand war eiskalt, ich spürte ihr Zittern. Mein Gott, was hatte diese Frau genommen?
»Ich bin Brandy Wilshire.«
Am liebsten hätte ich sie durchgeschüttelt und geschlagen, doch ich lächelte sie freundlich an. Mehr als alles andere wollte ich den Kindern helfen. »Ich freue mich, dass Sie vorbeigekommen sind«, sagte ich, als sei sie eine besorgte Mutter, die netterweise die örtliche Bibliothekarin begrüßte. »Ich wollte Ihnen schon immer sagen, was für kluge Kinder Sie haben.«
Das warf Brandy aus der Bahn. Selbst das Lächeln verschwand. Ohne Lächeln sah sie besser aus. Oben hatte sie kaum noch Zähne. Die untere Reihe konnte ich nicht sehen. »Was?«
»Shawn und Carrie Lynn. Was sind das für kluge Kinder!«
»Na, Shawns Lehrer sagen aber was ganz anderes! Er ist dumm wie Brot!«
»Aber nein!« Am liebsten hätte ich ihr die Wimpern herausgerissen. Dieses Miststück! Trotz allem lächelte ich. »Er ist intelligent. Unheimlich intelligent. Er hat lesen gelernt. Er merkt sich alles. Er behält alles, was er liest … « Ich lobte den Jungen in den höchsten Tönen. Dann sang ich ein Loblied auf Carrie Lynns Klugheit. Auf ihre schnelle Auffassungsgabe. Wie hervorragend
sie lese. Wie weit sie für ihr Alter sei. Wie aufmerksam sie zuhöre.
»Ich hab Shawn mal ein Buch gegeben, aber er hat nie
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