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Spiel mir das Lied vom Glück

Spiel mir das Lied vom Glück

Titel: Spiel mir das Lied vom Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathy Lamb
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über das Papier, malte dem Drachen zwei Augen und machte dann mit dem Körper und dem Schwanz weiter.
    Sie reichte mir den Stift zurück.
    Voller Staunen lehnte ich ihn ab. »Mal du das Bild weiter!«
    Sie brauchte keine weitere Aufforderung, sondern zeichnete im Hintergrund eine riesige Burg, die das gesamte Blatt einnahm, komplett mit Türmchen und Burggraben. Neben den Drachen malte sie ein lächelndes Mädchen mit Locken, das eine Rüstung und ein Schwert trug.
    Ich sah genauer hin.
    »Das bist du, Miss Bennett«, sagte sie.
    »Ich bin doch nicht so schön«, rutschte es mir unwillkürlich heraus.
    »Doch, bist du wohl«, sagten Shawn und Carrie Lynn wie aus einem Munde.
    »Die sieht genau aus wie du«, meinte Shawn.
    Carrie Lynn legte den Bleistift beiseite, holte sich bunte Kreide und begann, das Bild auszumalen. Ich sah zu, wie sie die Farben ineinanderfließen ließ, den Drachen und das Mädchen mit Hilfe der Farben zum Leben erweckte und sogar die Rüstung zum Glänzen brachte.
    »Carrie kann ganz gut malen, was, Miss Bennett?«, fragte Shawn mit Stolz in der Stimme.
    »Nein, Shawn«, widersprach ich. Carrie ließ die Kreide fallen, als hätte sie sich verbrannt. Sie lief rot an. Bevor sie den Blick senkte, beeilte ich mich, ihr die Wahrheit zu sagen: »Carrie kann nicht einfach
ganz gut
malen. Sie malt absolut hervorragend. Sie ist ein Genie. Wirklich unglaublich! Du bist eine Malerin, Carrie Lynn. Eine Künstlerin!«
    Und da schlang Carrie Lynn, die kleine Carrie Lynn mit den winzigen Händen und großen blauen Augen, die immer kurz vor dem Weinen zu sein schienen, ihre mageren Arme um meine breiten Hüften und drückte mich.
     
    Der Eingang zur Bücherei lag an der Hauptstraße. Ich hängte das Poster an eine Staffelei und stellte sie um zwei Uhr nach draußen. Shawn, Carrie Lynn und ich saßen auf der Treppe, tranken Milch, aßen dreieckige Plätzchen mit weißem Schokofudge und beobachteten verstohlen, wie die Einwohner den Aushang musterten. Der Geier hatte seine Wodkapause schon hinter sich.
    Wenn jemand das Poster betrachtete und lächelte, stieß ich Carrie Lynn an. Sie war so glücklich. So klein und zerbrechlich und doch so stolz. Ich hatte mir angewöhnt, Shawn und Carrie Lynn jeden Tag das Haar zu bürsten. Ihr Haar glänzte wie Gold in der Sonne.
    In letzter Zeit hatte ich keine blauen Flecke mehr gesehen, doch ich würde es dem Jugendamt melden, wenn neue hinzukamen. Warum mussten Kinder erst halbtot sein, ehe der Staat einschritt und etwas unternahm?
    Als unsere Mittagspause vorbei war, sortierten wir wieder Bücher ein, dann las ich den beiden eine Geschichte vor. Zur angekündigten Zeit, um drei Uhr, kamen zwei Mütter und vier Kinder zur Lesestunde.
    Ich hatte meine vier Lieblingsbücher herausgesucht. Nach zwei Büchern brachte ich den Kindern zwei Lieder bei, eines über einen frechen Esel und eines über eine Prinzessin, die immer in Schwierigkeiten geriet. Dann las ich aus dem dritten Buch vor. Ich legte eine Kinder- CD ein, die ich einen Tag zuvor gekauft hatte. Wir tanzten und machten Seifenblasen. Da ich zehn Minuten überzogen hatte, setzte ich mir am Ende der Lesestunde zwei Puppen auf die Hände, um mich von den Kindern zu verabschieden.
    Am nächsten Tag kamen vier Mütter mit ihren Kindern. Am Tag darauf neun. Am Ende der Woche besuchten elf Mütter mit ihren Kindern die Lesestunde. Jeden Tag stellte ich Shawn und Carrie Lynn als meine Helfer vor. Offenbar hatten die Mütter Mitleid mit ihnen und kannten ihren familiären Hintergrund, denn sie waren unheimlich lieb zu ihnen.
    Und als sie hörten, dass Carrie Lynn für den herrlichen Aushang verantwortlich war, machten sie der Kleinen so viele Komplimente, dass sie beinahe lächelte. Am Ende der Woche beschlossen wir, dass alle Teilnehmer der Lesestunde ihren Namen auf einen Zettel schreiben und in einen violetten Samthut werfen durften, den ich mir von Tante Lydia geborgt hatte. Ein Zettel wurde gezogen, und der Gewinner durfte das Bild behalten. Wer einmal gewonnen hatte, durfte beim nächsten Mal nicht mehr mitmachen.
    Am Freitag gewann ein vierjähriges Mädchen. Mit fliegenden Zöpfen und weit aufgerissenem Mund lief sie laut jubelnd zu Carrie Lynn und Shawn und umarmte die beiden. Dann nahm sie sich das Bild und rannte zur Tür. Ihre Mutter hatte Mühe, ihr zu folgen.
    Zwei andere Kinder weinten.
    Am Montag kamen Carrie Lynn und Shawn früh, um einen neuen Aushang anzufertigen. Carrie Lynn malte einen riesengroßen Hund

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