Spiel ohne Regeln (German Edition)
gigantischer Fehler, was ihr Stimmungsmanagement betraf. Allerdings war jegliches Stimmungsmanagement im Moment ohnehin undenkbar. Sie krallte sich mit aller Macht an ihrer geistigen Gesundheit fest, genau wie sie es damals auch getan hatte. Sie erkannte diesen entsetzlichen Schmerz wieder. Die Trauer. Die Angst. Sie waren schwer zu unterscheiden. Welch teuflisches Timing, ausgerechnet jetzt die schlechten alten Zeiten Revue passieren zu lassen. Vielleicht lief gerade ihr Leben vor ihrem geistigen Auge ab. Sie würde ihr Leben vermissen.
Na schön, zurück in die Vergangenheit.
Ihre Mutter hatte vergessen, dass sie überhaupt Kinder besaß, so sehr war sie auf die Pflege ihres Mannes fokussiert gewesen. Becca machte ihr keinen Vorwurf. Sie war das älteste Kind gewesen, neun Jahre älter als der dreijährige Josh, zehn Jahre älter als die zweijährige Carrie. Sie hatte das Kochen übernommen, die Einkäufe, das Windelwechseln. Sie hatte die beiden Kleinen gebadet, sie ins Bett gebracht, Carries Fläschchen warm gemacht, die Rinde von Joshs Toast abgeschnitten und mit ihnen gespielt, damit sie nicht störten.
Schnell hatte sie festgestellt, dass es ihr half, sich zu beschäftigten. Somit blieb ihr keine Zeit, über ihren Vater nachzudenken, der im Bett lag, neben ihm der Morphiumtropf und in seinen Augen dieser hohle Ausdruck, der verriet, dass die Dosis nicht hoch genug war. Keine Zeit, über wund gelegene Stellen, Bettpfannen, den Geruch von Desinfektionsmitteln nachzudenken, oder das verhärmte Gesicht ihrer Mutter.
Stattdessen konzentrierte Becca sich darauf, Haferflocken in Carries zappligen Körper zu schaufeln und Josh mit Erdnussbuttersandwiches und Rühreiern zu füttern. Sie machte die Wäsche, spülte das Geschirr, trug den Müll raus. Fleißig, fleißig, fleißig. Es half. Das tat es wirklich.
Bis sie die Beerdigung hinter sich gebracht und sämtliche Auflaufformen geleert hatten, war Becca ihr Fleiß in Fleisch und Blut übergegangen. Das war auch gut, weil ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes nämlich komplett zusammenbrach. Sie war verbraucht. Für den Rest ihrer Familie war nichts mehr übrig geblieben.
Von da an fiel es Becca zu, alles zusammenzuhalten. Im Alter von zwölf lernte sie, Schecks auszustellen und Rechnungen zu bezahlen. Als sie dreizehn war, lernte sie die harten Konsequenzen kennen, die es nach sich zog, wenn man zwei Jahre in Folge vergaß, Grundsteuern zu bezahlen. Sie vertröstete Gläubiger und kümmerte sich selbst um die Mahnungen, um zu verhindern, dass ihre Mutter Heulkrämpfe bekam oder in eine ihrer noch düstereren Stimmungen verfiel, in denen sie auf dem Bett hockte und die Flasche mit den Morphiumkapseln anstarrte. Ihr Vater hatte bereits in einem frühen Stadium seiner Krankheit eine tödliche Dosis angesammelt, um einen Ausweg zu haben, sollte es unerträglich werden. Er hatte sie nicht benutzt, aber es hatte ihn getröstet, zu wissen, dass er die Möglichkeit besaß.
Für Becca war es kein Trost gewesen. Sie hatte immer wieder das Haus nach den Morphiumkapseln durchkämmt, wenn ihre Mutter nicht da war, um sie wegwerfen zu können. Am Ende waren ihre Anstrengungen vergeblich gewesen. Das Schicksal schlug zu, egal, wie sehr man versuchte, sich vorzubereiten und dagegen zu wehren. Sosehr man sich auch ins Zeug legte, nichts konnte es aufhalten. Es kannte kein Erbarmen.
Der Vorrat ihres Vaters war nicht verschwendet worden, wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachten wollte. Als ihre Mutter die Tabletten am Ende schluckte, war Becca längst Expertin auf vielen Gebieten, und die Dinge aus dem Blickwinkel von anderen zu betrachten, gehörte dazu.
Sie hatte Verständnis für die Verzweiflung ihrer Mutter. Sie hatte Verständnis für Joshs Raufereien, für seine schulischen Probleme. Für Carries Anhänglichkeit, ihr Bettnässen, ihre Albträume und Angstattacken. Sie hatte Verständnis für die bedauerliche Notwendigkeit der Bank, eine Zwangsvollstreckung durchführen zu müssen. Hypothekenschulden mussten bezahlt werden. So funktionierte diese gnadenlose Welt nun mal.
Sie hatte Verständnis für ihre Verwandten, von denen sich keiner mit den finanziellen und emotionalen Problemen befassen wollte, die diese Waisenkinder mit sich brachten.
Becca hatte sogar Verständnis für den Blickwinkel der Versicherung, als die sie informierte, dass die Police im Fall eines Suizids nicht fällig wurde.
Nun, natürlich. Jeder vernunftbegabte Mensch konnte das nachvollziehen.
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