Spiel unter Freunden
Sicht.
In der Nachbarschaft
kehrte mit Einsetzen der Kälte und der Stunde des Abendessens
Ruhe ein. Nur zwei Autos begegneten ihnen auf dem Weg: ein
dunkelblauer 93er Ford Tempo mit einer jungen Frau am Steuer,
Kennzeichen 907 Michael-David-Charlie; und ein roter 99er Chevy
Blazer, zwei Insassen, Kennzeichen 415
Tango-Foxtrot-Zulu.
Das sind nur ganz
normale Leute, sagte sich Grace.
Durchschnittsbürger, die nach
einem Arbeitstag auf dem Heimweg sind, und wenn sie bei ihrem
Anblick ein wenig abbremsten, wenn sie ein wenig zu lange aus dem
Fenster schauten, dann bestimmt nur, weil sie es nicht gewohnt
waren, jemanden zu sehen, der mit seinem Hund im Laufschritt Gassi
ging. Dennoch sah sie den Autos nach, bis deren Rücklichter
unten an der Straße verschwunden waren. Die Kennzeichen
jedoch würde sie tagelang, wenn nicht länger, in ihrem
phänomenalen Gedächtnis speichern. Dagegen konnte sie
nichts machen.
Als Park konnte man es
kaum bezeichnen: ein kleines Quadrat kurz gemähten Rasens,
einige wenige Roteichen, an deren kahlen Zweigen noch das eine oder
andere gekräuselte Blatt hing, eine rostige Schaukel, zwei
reichlich verwitterte Wippen und eine Sandkiste, die eher von den
Katzen aus der Nachbarschaft benutzt wurde als von Kindern. Charlie
liebte es hier. Grace ertrug es, weil es sich um einen relativ
offenen Ort mit freier Sicht in jede Richtung handelte und weil
sich dort fast nie jemand aufhielt.
Von der Leine befreit,
rannte Charlie zum ersten Baum, hob das Bein und setzte seine
Marke, bevor er zum nächsten raste.
Er suchte jeden Baum
mindestens zweimal heim, bevor er mit hängender Zunge zu Grace
zurückgetrottet kam, die bei den Wippen wartete, den
Rücken fest an den kräftigen Stamm der größten
Eiche gepresst, die Augen ebenso in Bewegung, wie es die Beine des
Hundes gewesen waren.
«Alles
erledigt?», fragte sie ihn.
Er schien
verblüfft zu sein, dass ihm eine derart alberne Frage gestellt
wurde, und schoss auf der Stelle los, um seine Baumrunde aufs Neue
zu beginnen. Das Scharren seiner Pfoten im Laub war das einzige
direkte Geräusch, das die atemlose Stille der Dämmerung
in dieser ruhigen Wohngegend durchbrach. Wahrscheinlich existierte
Leben in den kleinen Häusern an den Straßen, die den
Park umsäumten, aber von außen war das nicht
festzustellen. Höfe und Gärten waren leer, Fenster waren
geschlossen, die Großstadtbären hatten sich in ihren
Höhlen verkrochen.
Sie zuckte zusammen,
als ein paar Häuser weiter plötzlich eine Tür
zugeschlagen wurde, entspannte sich aber wieder, als sie eine
Gestalt, die nur ein Kind sein konnte, über die Straße
laufen und den Park auf der anderen Seite betreten sah. Der Junge
verschwand hinter einem dicken Baumstamm, und Grace hielt ihn
für einen neun- oder zehnjährigen Bengel, der sich aus
dem Haus geschlichen hatte, um eine zu rauchen.
Charlie hatte jedoch
einen schlimmeren Verdacht und war in Windeseile an ihrer Seite,
presste sich gegen ihre Beine und vergrub seine feuchte Nase in
ihrer kalten Hand. Plötzliche Geräusche oder
plötzliche Bewegungen konnte er nicht leiden, es sei denn, er
selbst verursachte sie.
«Mein kleiner
Held», flüsterte sie ihm zu und streichelte dabei seinen
knöchernen Kopf. «Ganz ruhig. Ist doch nur ein
Junge.» Sie wollte gerade die Leine an Charlies Halsband
befestigen, um nach Hause zu laufen, als die Tür abermals
zuschlug. Sie riss den Kopf in die Höhe und sah, dass drei
weitere Gestalten die Straße überquerten und hinter der
ersten herliefen. Sie waren massiger, offenbar ältere Jungen,
und irgendwas stimmte mit ihnen nicht: Sie bewegten sich verstohlen
und schienen sich anzuschleichen wie Raubtiere.
Deswegen verhielt sich
Grace ganz still und aufmerksam.
«Verdammt, du
kleiner Wichser, diesmal machen wir dich fertig!» Der
wütende Ruf von der anderen Seite des Parks ließ den
verschreckten Hund niederkauern, bis er mit dem Bauch den Boden
berührte, und seine Pfoten zerfurchten die Erde, als er sich
zwischen Graces Beinen und dem Stamm der Eiche
vorrobbte.
Diese kleinen
Halunken, dachte Grace, die sofort auf die Knie gesunken war, den
zitternden Hund streichelte und ihn flüsternd beruhigte.
«Ist ja alles okay, Junge. Ist ja schon gut.
Das sind doch nur
Kinder. Etwas laute Kinder. Aber die werden dir nichts tun. Das
würde ich niemals zulassen. Dir wird niemals mehr jemand
wehtun. Hast du mich gehört, Charlie?» Seine heiße
Zunge schleckte über ihre Wange, und der Speichel
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