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Spielen: Roman (German Edition)

Spielen: Roman (German Edition)

Titel: Spielen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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hätte er nicht alles bereuen müssen! Ich sah ihn vor mir, händeringend verzweifelt, den Kopf gen Himmel gewandt, vor dem kleinen Sarg, in dem ich mit meinem Überbiss lag und nicht mehr »r« sagen konnte.
    Welch eine Süße in diesem Bild lag! Ich bekam fast schon wieder gute Laune. Und so war es in der Kindheit ja auch, der Abstand zwischen Gutem und Schlechtem war so viel kleiner als bei einem Erwachsenen. Man brauchte bloß den Kopf aus der Tür zu stecken, schon passierte irgendetwas Fantastisches. Zum B-Max hochzugehen und dort auf den Bus zu warten, war bereits ein Ereignis, obwohl es sich jahrelang fast täglich wiederholte. Warum? Ich habe keine Ahnung. Aber wenn im Nebel alles feucht glänzte und die Stiefel vom Schneematsch auf dem Asphalt durchnässt waren und der Schnee im Wald weiß und pappig war und wir in einer Clique zusammenstanden und redeten oder spielten oder den Mädchen hinterherliefen, um ihnen ein Bein zu stellen, ihnen die Mützen zu klauen oder sie bloß in eine Schneewehe zu werfen, und ich spürte eins von ihnen an meinem Körper, wenn ich meine Arme ganz fest um ihre Taille schlang, vielleicht Mariannes, vielleicht Sivs, vielleicht Marians, denn es gab immer eine unter ihnen, die ich lieber mochte und an die ich öfter dachte als an die anderen, dann vibrierten alle Nerven, dann sprudelte es vor Freude in meiner Brust – weswegen? Oh, wegen des nassen Schnees. Wegen der nassen Steppjacken. Wegen der vielen hübschen Mädchen. Wegen des Busses, der mit seinen Schneeketten Kurve um Kurve näher kam. Wegen der beschlagenen Fenster, wenn wir in unsere Klasse kamen, wegen unseres Geschreis und Gejohles, weil Anne Lisbet dort war, genauso fröhlich und genauso hübsch, genauso dunkelhaarig und mit genauso rotem Mund wie immer. Jeder Tag war ein Fest, weil alles, was geschah, vor Spannung zitterte und sich nichts vorhersehen ließ. Es war ja nicht vorbei, wenn der Bus kam, mit seinem Eintreffen begann doch alles erst, denn vor uns lag der ganze Schultag, angefangen mit der Verwandlung, die wir durchliefen, wenn wir die nassen Kleider an die Kleiderhaken gehängt hatten und auf Strümpfen und mit roten Wangen und zerzausten Haaren, die an den Spitzen, die aus der Mütze gelugt hatten, feucht waren, ins Klassenzimmer trotteten. Voller Ungeduld im Körper, wenn die Pause begann und wir die Treppen hochliefen, durch die Flure, die Eingangstreppe hinunter, über den Schulhof, die Böschung hinunter und auf den Fußballplatz. Und später kam man nach Hause, hörte Musik, las, zog seine Skier an und lief den steilen Hang bis Ubekilen hinunter, wo die anderen immer waren, um anschließend mit jener Intensität, die nur in der Kindheit existiert, den Hang wieder hochzulaufen, ihn im Grätenschritt hinaufzustapfen und anschließend wieder hinunterzulaufen, bis die Dunkelheit am Ende so kompakt war, dass man die Hand vor den Augen nicht mehr sah und vorgebeugt, mit den Stöcken in den Achselhöhlen, stehen blieb und sich über alles Mögliche unterhielt.
    Das Schimmern des Eises auf der langen und schmalen Bucht, das von einer zehn Zentimeter hohen Wasserschicht überzogen war. Das Licht aus den Häusern der Siedlung, das wie eine Art Kuppel über dem Wald hing. Die vielen Geräusche, die jedes Mal von der Dunkelheit verstärkt wurden, wenn jemand seine Körperhaltung änderte und die blauen Miniskier gegeneinanderklackten oder im feuchten Schnee einsanken. Das Auto, das sich auf dem schmalen Feldweg näherte, es war ein Käfer, er gehörte den Leuten, die dort wohnten, das Licht schwenkte über die Erde und legte für einen Moment alles gespenstisch offen, und dann schloss sich die Dunkelheit wieder um uns.
    Aus einer schier endlosen Zahl solcher Augenblicke, die alle gleichermaßen prall gefüllt waren, bestand die Kindheit. Einige von ihnen hoben mich in schwindelerregende Höhen, so etwa der Abend, an dem Tone meine Freundin wurde und die Straße halb hinunterrannte und -rutschte, die ihrer glänzenden Oberfläche nach zu urteilen gerade erst freigeräumt worden war, und als ich das dunkle Feld zwischen den Straßen vor unserem Haus erreichte, legte ich mich im Schnee auf den Rücken und blickte in die dichte, feuchte und lichtlose Dunkelheit über mir hinauf und war restlos glücklich.
    Andere Momente taten sich wie ein Abgrund unter mir auf, zum Beispiel jener Abend, an dem Mutter uns eröffnete, dass sie im kommenden Jahr eine Schule besuchen werde. Als sie es erzählte, aßen wir gerade

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