Spielen: Roman (German Edition)
welche Bedeutung das hatte, erst als ich erwachsen war und einem seiner früheren Schüler begegnete, konnte ich ihn in dieser Rolle vor mir sehen. Ein junger, schlanker, gut gekleideter Lehrer, der aus seinem Ascona stieg, mit zielstrebigen Schritten ins Lehrerzimmer hinaufging, die Tasche mit seinen Unterlagen ablegte, sich eine Tasse Kaffee eingoss, ein paar Worte mit seinen Kollegen wechselte, wenn es klingelte, in den Unterricht ging, das braune Cordjackett über den Stuhlrücken hängte, den Blick über die Klasse schweifen ließ, die vollkommen still saß und ihn ansah. Er hatte einen schwarzen, gut gepflegten Bart, leuchtende blaue Augen, ein schönes Gesicht. Die Jungen in der Klasse fürchteten ihn, denn er war streng und ließ ihnen nichts durchgehen. Die Mädchen in der Klasse waren in ihn verliebt, denn er war jung, hatte viel Charisma und ähnelte keinem ihrer anderen Lehrer. Er unterrichtete gern und war ein guter Lehrer: Wenn er über Dinge sprach, für die er sich leidenschaftlich interessierte, schlug er die Klasse in seinen Bann. Obstfelder war sein Lieblingsdichter, aber er las auch gerne Kinck und von den zeitgenössischen Autoren Bjørneboe.
Im Umgang mit seinen Kollegen war er korrekt, hielt aber immer eine gewisse Distanz zu ihnen. Diese Distanz zeigte sich in seiner Kleidung, denn viele der anderen Lehrer kamen des Öfteren auch in locker sitzenden Hemden und Jeans oder trugen monatelang denselben Anzug. Die Distanz zeigte sich in seiner Sachlichkeit. Die Distanz zeigte sich in seiner Körpersprache, seiner Haltung, seiner Ausstrahlung.
Er wusste stets mehr über sie, als sie über ihn wussten. Das war eine Regel in seinem Leben, die für alle galt, sogar für seine Eltern und Brüder. Vielleicht sogar ganz besonders für sie.
Wenn er aus der Schule nach Hause kam, ging er in sein Arbeitszimmer und bereitete abendliche Sitzungen vor; er saß für die Konservative Partei im Gemeinderat und im Ortsvorstand und darüber hinaus in mehreren Komitees, eine Zeitlang war sogar, behauptete er jedenfalls, eine Kandidatur für das nationale Parlament im Gespräch. Was er einem erzählte, entsprach allerdings nicht immer der Wahrheit, in seinem persönlichen Umfeld manipulierte er notorisch die Wahrheit, nicht jedoch bei seiner Arbeit in Schule und Politik, dort war er rechtschaffen und geschickt. Er war auch Mitglied eines Philatelisten-Vereins in Grimstad und nahm mit seiner Briefmarkensammlung an diversen Ausstellungen teil. Im Sommerhalbjahr arbeitete er häufig im Garten, und auch das tat er voller Ehrgeiz und Perfektionismus, wenn man dies über einen Garten an einem Haus in einer Siedlung in den Siebzigern sagen kann. Das Interesse für alles, was wuchs, hatte er von seiner Mutter geerbt, es war wahrscheinlich das Thema, über das sie sich am häufigsten unterhielten, über verschiedene Pflanzen, Sträucher und Bäume und welche Erfahrungen sie mit ihnen machten. Sonne, Erde, Feuchtigkeit, Säuregrad, pfropfen, beschneiden, gießen. Freunde hatte er keine, Kontakte zu anderen Menschen hatte er im Lehrerzimmer und innerhalb der Familie. Eltern, Brüder, Onkel und Tanten besuchte er oft und wurde ebenso oft von ihnen besucht. Mit ihnen unterhielt er sich in einem Ton, der Yngve und mir fremd war und den wir deshalb misstrauisch verfolgten.
Mutters Leben unterschied sich in vielen Dingen von seinem. Sie hatte zahlreiche Freundinnen, die meisten hatte sie auf der Arbeit kennengelernt, aber auch in anderen Zusammenhängen, nicht zuletzt unter den Nachbarn, mit denen sie zusammensaß und sich unterhielt – oder »gackerte«, wie Vater manchmal sagte – und rauchte und Kuchen aß, den sie gebacken hatte, wenn sie nicht strickend in einer Wolke aus Zigarettenrauch zusammensaßen, wie sie in den siebziger Jahren so viele Wohnzimmer vernebelte. Sie interessierte sich für Politik, befürwortete einen starken Staat, ein gut ausgebautes Gesundheitswesen, gleiche Rechte für alle, identifizierte sich wahrscheinlich mit der Frauen- und der Friedensbewegung, war gegen den Kapitalismus und wachsenden Materialismus, sympathisierte sicherlich mit der grünen Bewegung Die Zukunft in unseren Händen , war kurz gesagt linksgerichtet. Sie selbst bemerkte einmal, die Jahre zwischen zwanzig und dreißig, als sich alles um die Arbeit, die Kinder und darum drehte, den Alltag zu bewältigen, habe sie in einer Art Dämmerzustand verbracht. Das Geld sei knapp gewesen, man habe kämpfen müssen, um über die Runden zu
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