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Spielen: Roman (German Edition)

Spielen: Roman (German Edition)

Titel: Spielen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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kommen, aber mit Anfang dreißig habe sie sich selbst und die Gesellschaft, in der sie lebte, dann wieder wahrgenommen. Während Vater selten etwas anderes las als Texte, die er lesen musste, war sie eine leidenschaftliche Leserin. Sie war Idealistin, er war Pragmatiker, sie war eine Grüblerin, er war praktisch veranlagt.
    Gemeinsam zogen sie uns auf, obwohl ich es nie so erlebte, ich unterschied immer strikt zwischen ihnen und nahm sie als zwei vollkommen getrennte Wesen wahr. Für sie muss es jedoch anders gewesen sein. Wenn wir abends schliefen, saßen sie zusammen und unterhielten sich über die Nachbarn, ihre Kollegen und uns Kinder, wenn sie denn nicht über Politik oder Literatur sprachen. In seltenen Fällen brachen sie alleine zu einer Reise auf, nach London, ins Rheintal oder in die Berge, dann blieben Yngve und ich bei unseren Großeltern. Die Hausarbeit teilten sie untereinander gleichberechtigter auf als die Eltern meiner Spielkameraden; Vater putzte und kochte, was von den anderen Vätern keiner tat, hinzukam das bei ihnen damals sehr beliebte Horten von Lebensmitteln, die Fische, die er auf der Seeseite der Insel aus dem Wasser zog, die riesigen Mengen verschiedener Beeren, für die wir im Spätsommer und Herbst landeinwärts fuhren, um sie dort zu pflücken. Anschließend wurden sie entsaftet und Marmelade aus ihnen gemacht, die sie in Flaschen und Gläser füllten, die den ganzen Winter über auf den Regalbrettern im Keller standen und im Licht der kleinen Fensterluke unter der Decke leuchteten. Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren, Preiselbeeren und Moltebeeren, bei denen Vater vor Freude lautstark jubelte, wenn er sie fand. Schlehen für Wein. Darüber hinaus bezahlten sie dafür, in Gärten auf Tromøya Obst pflücken zu dürfen, wodurch wir mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen versorgt wurden. Dann gab es noch den Kirschbaum von Vaters Onkel Alf in Kristiansand und selbstverständlich Großvater und Großmutters Obstbäume. Die einzelnen Tage waren bei uns übersichtlich und strukturiert, an den Sonntagen gab es ein besonderes Essen mit Nachtisch, wochentags gab es in der Regel Fisch in unterschiedlichen Formen und Variationen. Wir wussten immer, wann wir am nächsten Tag in die Schule mussten, wie viele Stunden wir in welchen Fächern haben würden, und was abends geschah, blieb auch nicht ohne festen Rahmen, weil es so saisonabhängig war: Fiel Schnee oder bildete sich eine Eisdecke, tja, dann standen Skier und Schlittschuhe im Mittelpunkt. Stieg die Wassertemperatur über fünfzehn Grad, tja, dann gingen wir schwimmen, ob nun die Sonne schien oder es regnete. Der einzige unvorhersehbare Faktor in diesem Leben, das von Herbst bis Winter, Frühling bis Sommer, von Schuljahr zu Schuljahr verlief, war Vater. Ich hatte eine solche Angst vor ihm, dass ich selbst unter Aufbietung all meiner Willenskraft nicht in der Lage bin, sie heute wieder heraufzubeschwören; die Gefühle, die ich ihm gegenüber hegte, habe ich seither nie, nicht einmal ansatzweise empfunden.
    Seine Schritte auf der Treppe, waren sie auf dem Weg zu meinem Zimmer?
    Der rasende Zorn in seinen Augen. Der Zug um den Mund, die Lippen, die sich unkontrolliert öffneten. Und dann seine Stimme.
    Wenn ich hier sitze und sie innerlich höre, bin ich kurz davor, in Tränen auszubrechen.
    Seine Wut kam wie eine Welle, sie rollte durch die Zimmer und traf mich, traf und traf und traf mich, um sich anschlie ßend wieder zurückzuziehen. Danach blieb es manchmal wochenlang ruhig, aber Ruhe herrschte trotzdem nicht, da seine Wut ebenso gut in zwei Minuten wie in zwei Tagen wieder aufflammen konnte. Es gab keine Vorwarnung. Plötzlich stand er wutentbrannt vor einem. Wenn er schlug, machte das die Sache weder besser noch schlechter, es war genauso schlimm; wenn er mein Ohr umdrehte oder mich fest am Arm packte oder mich irgendwohin schleifte, wo ich sehen sollte, was ich angerichtet hatte, war es nicht der Schmerz, vor dem ich Angst hatte, sondern er selbst, seine Stimme, sein Gesicht, sein Körper und die Raserei, die ihm entsprang. Davor hatte ich Angst, und diese Angst legte sich nie, sie blieb an jedem einzelnen Tag meiner gesamten Kindheit bestehen.
    Nach den Zusammenstößen mit ihm wäre ich am liebsten gestorben. Es war eine meiner wärmsten und besten Fantasien, dass ich starb. Das hätte er davon gehabt, dann hätte er sich Gedanken darüber machen müssen, was er angerichtet hatte. Und als Nächstes hätte er es bereuen müssen. Oh, was

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