Spielen: Roman (German Edition)
las über einen seltsamen, kleinen Mann, der auf einem Strand wohnte und von den Wrackteilen lebte, die er dort fand, und über englische Jungen, die Kadetten an Bord von Kriegsschiffen waren, und über die Abenteuer des Italieners Marco Polo am Hofe Dschingis Khans. Buch für Buch, Tasche für Tasche, Woche für Woche, Monat für Monat. Die Bücher lehrten mich, dass man mutig sein musste, dass Mut vielleicht sogar die erstrebenswerteste Eigenschaft überhaupt war, dass man bei allem, was man tat, ehrlich und aufrichtig sein musste und dass man andere niemals im Stich lassen durfte. Darüber hinaus, dass man niemals nachgeben, niemals aufgeben durfte, denn wenn man standhaft, aufrecht, mutig und ehrlich war, ganz gleich, wie einsam es einen gemacht haben mochte und wie allein man am Ende dastand, wurde man zu guter Letzt belohnt. Daran dachte ich oft, es war ein Gedanke, für den ich mich begeisterte, wenn ich alleine war, dass ich eines Tages an unseren Wohnort zurückkehren und jemand sein würde. Dass ich eines Tages ein großer Mensch wäre, den alle in Tybakken, ob sie nun wollten oder nicht, bewundern mussten. Dieser Tag würde nicht morgen sein, das war mir bewusst, denn man begegnete mir nicht mit Respekt, zum Beispiel wenn Asgeir etwas Beleidigendes über mich und ein Mädchen sagte, das ich mochte, und ich auf ihn losging und er mich mühelos zu Boden rang, sich rittlings auf mich setzte und anfing, mich mit den Zeigefingern in Brust und Wangen zu piksen, und dabei lachte und mich verhöhnte, und ich, der ich zufällig den Mund voller gelberFox-Drops hatte, dann versuchte, ihn damit anzuspucken, aber selbst damit, was in den Augen aller ohnehin niederträchtig war, scheiterte ich, so dass die gelbe Schmiere stattdessen in mei nem Gesicht klebte. Du riechst nach Pisse, du Scheißkerl, sagte ich zu ihm, und das war nicht gelogen, das tat er wirklich. Aber das war noch nicht alles, außerdem hatte er die doppelte Zahl von Zähnen, genau wie ein Hai, die eine Zahnreihe hinter der anderen, und auf diesen abstoßenden Anblick lenkte ich entsprechend die Aufmerksamkeit der Umstehenden, ohne dass es mir etwas genützt hätte, denn ich lag auf der Erde, war besiegt und konnte nichts, egal was, beeinflussen. Weiter entfernt von den Idealen, die ich durch das Lesen verinnerlicht hatte – und die im Übrigen auch den anderen Kindern wichtig waren, Begriffe wie Ehre galten auch für sie, ohne dass dieses Wort jemals explizit gefallen wäre, aber es ging genau darum –, konnte ich mich kaum bewegen. Ich war schwach, träge, feige; nicht stark, gewandt, mutig. Was half es da, dass ich, im Gegensatz zu ihnen, mit den Idealen in Kontakt stand, dass ich sie in- und auswendig kannte, sie besser kannte, als es bei irgendwem von ihnen jemals der Fall sein würde, wenn ich sie nicht ausleben konnte? Wenn ich grundlos weinte? Dass ausgerechnet ich, der ich so viel über Heldenmut wusste, mit solcher Schwäche geschlagen sein sollte, empfand ich als ungerecht. Aber es gab auch Bücher über solche Schwächen, und eins von ihnen trug mich auf einer Welle, die mehrere Monate anhielt.
Im Herbst wurde ich krank, lag tagsüber alleine zu Hause und langweilte mich, bis Vater eines Morgens vor der Arbeit mit ein paar Büchern zu mir kam. Er hatte sie im Keller verwahrt, sie stammten noch aus seiner Kindheit in den Fünfzigern, ich konnte sie mir von ihm ausleihen. Einige von ihnen waren in einem christlichen Verlag erschienen, und aus irgendeinem Grund beeindruckten mich diese am meisten. Eins hinterließ sogar einen unauslöschlichen Eindruck. Es handelte von einem Jungen, der zu Hause wohnte und seine kranke Mutter pflegte, sein Vater war tot, sie lebten in Armut und waren abhängig von der Fähigkeit des Jungen, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ihm stand eine Clique oder besser gesagt eine Bande anderer Jungen gegenüber. Ihn, der sich so sehr von ihnen unterschied, jagten und schlugen sie nicht nur, sie fluchten und stahlen zudem, und die Ungerechtigkeit der Erfolge dieser Jungenbande im Vergleich zu den ständigen Rückschlägen der aufrichtigen, mutterliebenden und recht schaffenen Hauptfigur, war kaum zu ertragen. Ich weinte über diese Ungerechtigkeit, ich weinte über diese Gemeinheit, und die Dynamik, bei der das Gute im Verborgenen gehalten wurde und der Druck der Ungerechtigkeit sich bis ins Unerträgliche steigerte, erschütterte meine Seele in ihren Grundfesten, so dass ich schließlich beschloss, ein guter Mensch zu
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