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Spielen: Roman (German Edition)

Spielen: Roman (German Edition)

Titel: Spielen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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die gleiche Form, und diese wurde uns so vertraut, dass nur wenige Wochen vergingen, bis sie uns nicht mehr überraschte. Was vom Lehrerpult aus gesagt wurde, war die Wahrheit, und dass es von dort verkündet wurde, ließ selbst die unwahrscheinlichsten Dinge glaubwürdig erscheinen. Dass Jesus über das Wasser wandelte, das war wahr. Dass Gott sich zu Moses’ Füßen als brennender Dornbusch gezeigt hatte, das war wahr. Dass Krankheiten von Geschöpfen erzeugt wurden, die so klein waren, dass niemand sie sehen konnte, das war wahr. Dass alle Dinge, auch wir selbst, aus winzig kleinen Teilchen bestanden, die noch kleiner waren als die Bakterien, das war wahr. Dass die Bäume vom Sonnenlicht lebten, das war wahr. Aber nicht nur dem, was die Lehrer sagten, begegneten wir so, auch was sie taten, nahmen wir vorbehaltlos an. Viele unserer Lehrer waren alt, vor oder während des Ersten Weltkriegs geboren und seit den dreißiger oder vierziger Jahren im Beruf. Grauhaarig und in Anzügen merkten sie sich niemals unsere Namen, und was sie an Wissen und Weisheit anzubieten hatten, erreichte uns nicht. Einer von ihnen hieß Thommesen und las uns einmal in der Woche in der großen Pause gekrümmt vor dem Lehrerpult stehend, mit leicht nuschelnder Stimme, blassem, fast gelblichem Teint und blauroten Lippen aus einem Buch vor. Das Buch handelte von einer Frau in der Wildnis und blieb für uns völlig unverständlich, so dass die Zeitspanne, die er selbst wahrscheinlich nett fand, eine freundliche Geste den kleinen Erstklässlern gegenüber, für uns zu einer Qual und Pein wurde, da wir stillsitzen mussten, während er sich durch eine Geschichte räusperte und murmelte, von der wir kein Wort verstanden.
    Ein anderer Lehrer war zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, hieß Myklebust, stammte irgendwo aus Westnorwegen, wohnte in Hisøya und setzte auf knallharte Disziplin. Zu jeder Schulstunde bei ihm mussten wir uns nicht nur aufstellen und ins Klassenzimmer einmarschieren; dort angekommen mussten wir uns zudem neben unsere Pulte stellen, woraufhin er uns, neben dem Lehrerpult stehend, bedächtig musterte, bis es mucksmäuschenstill im Raum war. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen, nickte und sagte guten Morgen, Klasse, oder guten Tag, Klasse, was wir mit einem entsprechenden guten Morgen, Herr Lehrer, oder guten Tag, Herr Lehrer, beantworteten. Er war sich nicht zu schade, Schüler in Momenten der Erregung zu ohrfeigen oder an die Wand zu pressen. Wenn er jemanden nicht mochte, machte er ihn oft lächerlich. Seine Turnstunden waren reine Exerzierübungen. Es gab auch Lehrerinnen in seinem Alter, auch sie waren streng und distanziert, umgeben von einer uns unbekannten Aura, die jedoch automatisch respektiert und nicht selten auch gefürchtet wurden. Ich erinnere mich, dass eine von ihnen mich einmal an den Haaren hochzog, als ich etwas Unpassendes gesagt hatte, aber ansonsten begnügten sie sich in der Regel mit Benachrichtigungen an die Eltern, da wir wegen der Schulbusse weder nachsitzen noch zur nullten Stunde erscheinen konnten. Neben dieser Gruppe älterer Pädagogen, von denen manche ihr gesamtes Berufsleben an dieser Schule verbracht hatten, gab es eine neue Generation von Lehrern im Alter unserer Eltern oder noch jünger. Unsere Klassenlehrerin Helga Torgersen gehörte zu ihr. Sie galt als »nett«, was bedeutete, dass sie auf Regelverstöße nie mit Härte reagierte, nie wütend wurde, niemals schrie, niemals schlug oder einen an den Haaren zog, sondern jeden Konflikt dadurch löste, ruhig und beherrscht über ihn zu sprechen, und indem sie eher mit ihrer Persönlichkeit als ihrer Rolle präsent war, es also nur einen kleinen Unterschied zwischen dem Menschen gab, der sie privat war, wenn sie ihre Zeit mit Freunden oder zu Hause mit ihrem Mann verbrachte, den sie erst kürzlich geheiratet hatte, und der Frau, die sie in unserem Klassenzimmer war. Das galt bei Weitem nicht nur für sie, alle jungen Lehrer waren so, und wir hatten sie gern. Der Rektor unserer Schule gehörte zu diesen jungen Lehrkräften, er hieß Osmundsen und war um die dreißig, hatte einen Bart, war kräftig gebaut und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Vater, aber ihn fürchteten wir, vielleicht fürchteten wir ihn sogar am meisten von allen, jedoch nicht wegen dem, was er tat, sondern wegen dem, was er war. In sein Büro verschlug es einen, wenn man etwas Schwerwiegendes angestellt hatte. Die Tatsache, dass er sich nicht am täglichen

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