Spielen: Roman (German Edition)
fragte daraufhin jemand. Das bedeutet, dass sein Blut nicht gerinnt, erläuterte Vemund. Wenn Papa sich verletzt und es anfängt zu bluten, hört es nicht mehr auf, er blutet einfach immer weiter, und dann muss er ein Medikament nehmen oder ins Krankenhaus fahren, sonst stirbt er.
Die Nachbarschaft von Anne Lisbet, Solveig und Vemund, in der viele andere Kinder wohnten, die ein oder zwei Jahre älter oder jünger waren als wir, wurde plötzlich in unsere Welt hineingezogen, als wir in die Schule kamen. Für die anderen Nachbarschaften, aus denen die Kinder in unserer Klasse kamen, galt das Gleiche. Als würde ein Vorhang aufgezogen, und was wir für die ganze Bühne gehalten hatten, war bloß die Vorbühne gewesen. Das Haus am Hang, dessen vollkommen flachen Garten wir von der Kuppe aus sehen konnten und das fast auf dem Rand einer weißen Mauer balancierte, hinter der es jäh fünf Meter in die Tiefe ging und auf der ein grüner Drahtzaun stand, war nun nicht mehr nur irgendein Haus, sondern das Haus, in dem Siv Johannesen wohnte. Fünfzig Meter weiter, hinter dem dichten Wald, endete eine Straße, an der Sverre, Geir B. und Eivind wohnten. Gleich darunter, aber wiederum in einer ganz anderen Siedlung, einer ganz anderen Welt, wohnten Kristin Tamar, Marian und Asgeir.
Sie alle hatten ihre Orte, sie alle hatten ihre Freunde, und das alles öffnete sich im Laufe einiger Spätsommerwochen für uns. Es war alles neu, aber auch vertraut, denn wir ähnelten einander natürlich, beschäftigten uns mit den gleichen Dingen und waren entsprechend offen füreinander. Gleichzeitig hatte jeder Einzelne von uns auch etwas ganz Eigenes. Sølvi war so schüchtern, dass sie kaum reden konnte. Unni arbeitete jeden Samstag mit ihren Eltern und Brüdern auf dem Markt, sie verkauften Gemüse, das sie selbst angebaut hatten. Vemunds Vater ging auf Krücken. Kristin Tamar hatte eine Brille mit einer Klappe über dem einen Auge. Geir Håkon, der immer so ein harter Bursche gewesen war, stand plötzlich an der Tafel und wand sich und war verlegen. Dag Magne grinste die ganze Zeit. Geir hatte bei seiner Geburt die letzte Ölung bekommen, weil alle dachten, er würde sterben. Asgeir roch immer schwach nach Pisse. Marianne war so stark wie ein Junge. Eivind konnte lesen und schreiben und war ein gu ter Fußballspieler. Trond war klein und pfeilschnell. Solveig konnte ganz toll zeichnen. Anne Lisbets Vater war Taucher. Und John hatte die meisten Onkel von allen.
Als wir eines Tages die ersten drei Stunden in der Schule gewesen waren und der Bus uns gegen zwölf am Supermarkt abgesetzt hatte, begleiteten Geir und ich John nach Hause. Die Sonne schien, der Himmel war blau, die Straße trocken und staubig. Als wir zu Johns Haus kamen, fragte er, ob wir hereinkommen und ein Glas Saft trinken wollten. Das wollten wir. Wir folgten ihm auf die Veranda, legten die Ranzen ab und setzten uns auf die Plastikstühle, die dort standen. Er öffnete die Tür zum Haus und rief hinein.
»Mama, wir möchten Saft trinken! Ich habe Besuch von zweien aus meiner Klasse!«
Seine Mutter trat aus der Tür. Sie trug einen weißen Bikini, ihre Haut war sonnengebräunt, die langen Haare dunkel blond. Der gesamte obere Teil ihres Gesichts wurde von einer großen Sonnenbrille verdeckt.
»Das ist ja nett«, sagte sie. »Dann will ich mal sehen, ob wir Saft für euch haben.«
Sie ging ins Wohnzimmer und verschwand durch eine Tür. Das Wohnzimmer wirkte leer. Es ähnelte unserem, aber es standen weniger Möbel darin, und es hingen auch keine Bilder an den Wänden. Auf der Straße unter uns gingen zwei Mädchen aus unserer Klasse vorbei. John lehnte sich über das Geländer und rief ihnen hinterher, sie sähen aus wie Affen.
Geir und ich lachten.
Die Mädchen schenkten uns keine Beachtung, sondern gingen weiter die Straße hinab. Marianne war größer als jeder Junge, hatte eine hohe Stirn, hohe Wangenknochen und lange blonde Haare, die zu beiden Seiten ihres Gesichts glatt herabhingen wie Vorhänge. Ab und zu, wenn sie aufgebracht oder verzweifelt war, runzelte sie die Stirn und bekam einen sehr speziellen Blick, den ich gerne sah. Manchmal wurde sie auch wütend und setzte sich wie kein anderes Mädchen zur Wehr.
Johns Mutter kam mit einem Tablett heraus, auf dem drei Gläser und ein Krug mit Saft standen, stellte jedem von uns ein Glas hin und schenkte ein. Dicht an dicht trieben Eiswürfel auf dem roten Saft. Als sie wieder hineinging, betrachtete ich sie. Sie war
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