Spielen: Roman (German Edition)
Aber wo war Anne Lisbet? War sie etwa nicht gekommen?
Im selben Moment kam der Bus den Anstieg herauf. Geir und ich liefen über die Straße und schafften es gerade noch rechtzeitig zur Sammelstelle, als er auf den asphaltierten Platz vor dem Geschäft bog. Wir stiegen als letzte von allen ein, setzten uns in eine Bank weit vorn. Die großen Scheiben beschlugen durch die Feuchtigkeit, die wir hineintrugen. Viele begannen sofort, auf die beschlagenen Fenster zu zeichnen. Der Busfahrer schloss die Türen und fuhr zur Hauptstraße, ich kniete auf meinem Sitz und blickte nach hinten. Sie saß nicht im Bus, und es war mir, als hätte das Leben soeben jeden Sinn verloren. Auch Solveig war nicht im Bus, so dass sich nicht herausfinden ließ, wie krank sie war oder wie lange sie es noch sein würde.
Zehn Minuten später hielt der Bus vor der Schule, und wir liefen über den Schulhof zum Schlechtwetterunterstand, wo wir mit fast allen anderen Schulkindern zusammenstanden, bis es zur ersten Stunde klingelte und wir uns klassenweise aufstellten. Dem Aussehen nach kannte ich die meisten, bei ein paar auch ihren Namen und ihren Ruf. Turnen hatten wir gemeinsam mit unserer Parallelklasse, deren Kinder uns überlegen waren, weil sie von dort stammten und die Verhältnisse bereits von früher her kannten. Das war ihre Schule, es waren ihre Lehrer, für sie waren wir lediglich eine Art vogelfreie Zuzügler. Aber sie waren auch verwegener als wir, will sagen, sie prügelten sich mehr, tobten wüster und hatten ein frecheres Mundwerk, jedenfalls manche von ihnen, und dagegen konnten sich nur die verwegensten von uns, also Asgeir und John, behaupten. Wir anderen wurden beliebig herumgeschubst. Plötzlich spürte man einen Arm um seinen Hals, als Nächstes einen Ruck, und schon lag man auf der Erde. Plötzlich wurde beim Aufstellen oder im Flur auf dem Weg zum Klassenzimmer die Schulter genau dort von einem Faustschlag getroffen, wo es am meisten wehtat. Plötzlich trat einem beim Fußballspielen jemand auf die Zehen. Bei John oder Asgeir merkten sie dagegen schnell, dass sie sich bei ihnen nicht alles erlauben konnten, denn die beiden wehrten sich und waren manchmal genauso wüst wie sie. Diese Jungen, die damals an der Ostküste der Insel wohnten, trugen auch andere Kleidung als wir, zumindest manche von ihnen. Ihre Klamotten waren älter und wirkten abgetragener, als trügen sie ausschließlich Kleidungsstücke, die sie von anderen übernommen hatten, und zwar nicht von einem Bruder, sondern von zwei oder vielleicht auch dreien … Meine und Geirs größte Sorge bestand darin, dass eines dieser Kinder uns erwischen würde, wenn wir an unserem geheimen Ort waren. Ein großes Problem bildeten sie allerdings nicht, man musste nur ein wenig auf der Hut sein, wenn man unterwegs war, dann ging meistens alles gut. Die vielleicht wichtigste Konsequenz bestand darin, dass wir stärker zusammenhielten, uns als eine Einheit und das Klassenzimmer als einen Ort absoluter Geborgenheit erlebten.
Es klingelte, wir stellten uns auf, und unsere Lehrerin trat groß und schlank wie immer mit ihrem etwas ungelenken Gang und leicht nervösen Handbewegungen auf den oberen Treppenabsatz, woraufhin wir zu unserem Klassenzimmer marschierten, in dem wir, nachdem wir die Regenjacken an die Haken vor dem Raum gehängt hatten, unverzüglich unsere Plätze einnahmen.
»Anne Lisbet ist heute noch krank!«, rief jemand.
»Solveig auch.«
»Und Vemund.«
»Und Leif Tore«, sagte Geir.
Mir fiel wieder ein, was am Vorabend passiert war.
»Vemund ist krank im Kopf!«, verkündete Eivind.
»Ha ha ha!«
»Nein, nein, nein«, sagte die Lehrerin. »In unserer Klasse reden wir nicht schlecht über andere. Erst recht nicht, wenn sie nicht da sind!«
»Leif Tores Vater war gestern betrunken!«, rief ich. »Meine Mutter musste sie zu einem Verwandten fahren. Deshalb ist er heute nicht da!«
»Schhhh«, sagte unsere Lehrerin und legte den Finger auf die Lippen, sah mich an und schüttelte den Kopf. Anschließend notierte sie sich etwas in ihrem Buch, ehe sie den Blick durch die Klasse schweifen ließ.
»Fehlt noch wer? Nein? Dann fangen wir mal an.«
Sie ging nach vorn und setzte sich auf den Rand des Lehrerpults. In dieser Woche sollten wir den Bauernhof durchnehmen. War jemand von uns schon einmal auf einem Bauernhof gewesen?
Oh, ich streckte meinen Arm so hoch, wie ich nur konnte, richtete mich fast auf und rief Ich, ich, ich! Ich hier!
Allerdings war ich
Weitere Kostenlose Bücher