Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
Häuser, so wie Vögel Nester bauen, was also ist daran besonders? Früher hat Rachel einmal geglaubt, den Kontakt mit außerirdischen Intelligenzen zu suchen, wäre etwas, auf das nur Menschen kommen können, aber eigentlich ist das nicht anders, als wenn ein junger Wolf aus dem Gebüsch ein menschliches Lagerfeuer beobachtet und darauf hofft, dass er eingeladen wird näher zu kommen, um sich diesem Rudel einer anderen Spezies anzuschließen. Aber Musik, Malerei und Humor? Was diese Eigenschaften angeht, muss Rachel sich mit Hörensagen zufriedengeben.
Rachel hat nie richtig in die Welt gepasst. Sie erinnert sich, dass man ihr als Kind ausgesägte und mit Schmirgelpapier beklebte Holzzahlen gegeben hat, um ihr die Zahlen und die Mathematik nahezubringen. Andere Kinder bekamen keine Sandpapierzahlen zum Anfassen, aber sie schon, und sie weiß, dass sie für ihre neurotypischen Klassenkameraden nur ein bestenfalls geduldetes Ärgernis war. Rachel erinnert sich außerdem, dass sie oft tagelang gehungert hat, weil das Essen, das auf den Tisch kam, für sie die falsche Temperatur oder Farbe hatte oder falsch auf dem Teller plaziert war: eben einfach nicht richtig . Und sie erinnert sich daran, wie sie Videospiele für nur einen Spieler entdeckte und zum ersten Mal in ihrem Leben einen zweidimensionalen, vorurteilsfreien, scharf abgegrenzten Zufluchtsort zu sehen bekam, in dem sie sich ohne falsch temperierte Speisen, abartige Farbzusammenstellungen und Schikanen in der Schule frei bewegen konnte. Wenn sie durch das Portal ihres Monitors jene andere Welt betritt, kann ihr Avatar, Spieler Eins, zum Leben erwachen. Anders als Rachel hat Spieler Eins den vollkommenen Überblick über Welt und Zeit. Das Leben von Spieler Eins entspricht eher einem Gemälde als einer Geschichte. Spieler Eins vermag alles mit einem kurzen Blick zu erfassen und wechselt beliebig das Tempus. Spieler Eins besitzt die ultimative Freiheit, die ultimative Software auf der ultimativen Hardware. Dieser Zufluchtsort ist zugleich dereinzige Ort, an dem sich Spieler Eins als – in Ermangelung einer besseren Bezeichnung – »normal« empfindet.
Rachel weiß darüber hinaus, dass sie etwas ist, das man als »schön« bezeichnet, kann sich aber nichts darunter vorstellen. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr konnte sie nicht in einen Spiegel schauen, ohne zu schreien. Wenn man ihr Fotos von verschiedenen Menschen vorlegte, unter denen sich auch eins von ihr befand, konnte sie sich selbst nur unter Schwierigkeiten erkennen. Aber sie weiß, dass die Menschen, weil sie diese sogenannte »Schönheit« besitzt, anders auf sie reagieren, als wenn sie nicht schön wäre. Ihrem Vater zufolge macht der Besitz dieser Schönheit ihre Existenz tragisch – was immer »tragisch« auch bedeutet. Auch darauf kann sie sich keinen Reim machen. Es bedeutet, dass etwas Gutes passiert ist, dann aber zunichtegemacht wurde. Es bedeutet so viel wie die Vergeudung eines Menschenlebens.
Doch Rachel wird beweisen, dass sie keine Vergeudung ist. Sie hat bereits bewiesen, dass sie in der Lage ist, sich schick und elegant zu kleiden, wie eine richtige, menschliche Frau. Sie hat in einem Magazin gelesen, dass jede Frau ein kleines Schwarzes braucht und alle Frauen Kleider von Chanel lieben, darum hatte sie das gesamte Geld abgehoben, das sie mit ihrer Mäusezucht verdient hatte, und sich in der Chanel-Boutique in der City ein kleines Schwarzes und Schuhe im Wert von dreitausendvierhundert Dollar gekauft, dem Gegenwert von achttausendzweihundert Mäusen. Außerdem hatte sich Rachel in eine Filiale von First Choice Haircutters gewagt und sich komplett neu stylen lassen, weil sie gehört hatte, dass alle Frauen so etwas lieben – und dass eine Frau, die frisch vom Friseur kommt, auf Männer extrem begehrenswert wirkt. Nachdem sie dann ihren Menstruationszyklus durchgerechnet hatte und wie eine fruchtbare und begehrenswerte menschliche Frau angezogen und zurechtgemacht war, hatte sie ein Taxi zur Cocktaillounge des Flughafenhotels genommen, denn aus Chatrooms im Internet wusste sie, dass Menschenhierherkamen, um Sexabenteuer zu erleben. Unter einem solchen »Abenteuer« verstehen die Menschen eine absolut unverbindliche, einmalige sexuelle Begegnung, zumeist ohne Zeugungsabsicht. In Flughäfen oder deren Umgebung haben Menschen oft ein vermindertes Identitätsempfinden, und Reisende neigen zum Flirten und zu sexuellen Experimenten, die in ihrer Alltagsumgebung undenkbar wären.
Daher sitzt
Weitere Kostenlose Bücher