Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
Menschen getreten. In Karens eigenem Leben verändert sich nie etwas; und obwohl sie ihr Leben liebend gerne selbst verändern würde, weiß sie nicht, wie sie es anstellen soll. Sie kommt sich wie die ausgestopfte Version ihrer selbst vor. Wie schnell die Zeit verfliegt, und wie schnell sich am Schluss die eigenen Fehler addieren zu etwas, das weit kleiner ist als das, was man sich vorgestellt hat.
»Wie ist das bei dir, Warren, hast du je das Gefühl gehabt, dass dein Leben eine Geschichte ist?«
Warren erstarrt. »Eine Geschichte? Nein. Doch. Keine Ahnung. Glaub schon. Wieso?«
»Wieso? Weil ich glaube, dass der Geschichtenteil meines Lebens vorbei ist.«
Karen hatte gehofft, die Cocktaillounge würde ihre Hemmungen zerstreuen, sie, spitz, wie sie war, authentischer wirken lassen. Sie hatte gehofft, aus Offenheit würde Intimität, aus Ehrlichkeit Nähe entstehen, doch stattdessen verschlechtert die Cocktaillounge nur ihre Laune, weil all ihre unterdrückten Vorstellungen und Ideen nun in ihr hochblubbern.
Warren bestellt einen weiteren Scotch und verfolgt einen Nachrichtenbeitrag über einen kleinen Meteoriteneinschlag in Schottland. Karen denkt daran, wie Casey, fünfzehn Jahre alt, letzten Monat in die Küche kam und sagte: »Am 4. Dezember des Jahres 65.370.112 wird ein Meteor auf der Erde einschlagen und alles Leben vernichten.« Karen wird ganz schwindelig dabei, sich das Jahr 65.370.112 vorzustellen, und dennoch wird dieses Jahr so unausweichlich und zuverlässig eintreffen wie die Werbebroschüren, die ihr zweimal pro Woche die vordere Veranda zumüllen.
Das Eis der nächsten Eiszeit beschrieb Casey als »so dick und schwer, dass es die Erdkruste durchbohren und Blasen aus geschmolzenem Nickel, Bauxit und Pechblende erzeugen wird. Anschließend verdampfen die Ozeane. Alles Leben wird ausgelöscht.« Wie ist aus Casey nur so ein morbides Kind geworden? Karen wird nie vergessen, wie sie im letzten Jahr an der Fleischtheke im Loblaws erstarrt war, als Casey aus heiterem Himmel gefragt hatte, ob sie einen halben Liter Blut kaufen könne. In einem seltenen Moment mütterlicher Gefasstheit hatte Karen Casey gefragt, wofür sie denn Blut brauche, und Casey hatte erklärt, sie und zwei Freundinnen würden es für ein Ritual benötigen.
»Was für eine Art von Ritual?«
»Weiß nicht. Irgendwas Gruseliges.«
»Mit so was wie Ritualen muss man vorsichtig sein, Casey.«
»Danke für den Ratschlag, Mum.«
»Nein, im Ernst. Manchmal öffnet man mit einem Ritual eine Tür, die sich nie wieder schließen lässt. Nicht bloß mit Ouijabrettern. Mit jedem Ritual.«
»Echt?« Ausnahmsweise war es Karen mal gelungen, in Caseys Universum einzudringen, und sie gab sich noch Bonuspunkte dafür, dass sie es sich verkniffen hatte, das Ritual der Eheschließung mit dem rituellen Gebrauch des Ouijabrettes gleichzusetzen.
Karen leert ihr Glas und würde gern ein neues haben. Doch Rick ist im rückwärtigen Bereich der Bar und hat den Kopf in einer Eismaschine stecken. Karen wünschte, er käme zurück und würde etwas sagen, um die Stimmung aufzulockern. Und ihr noch einen Drink machen. Der nächste Drink würde vielleicht Linderung bringen. Karen muss an die Zeit denken, unmittelbar bevor Kevin sie um die Scheidung bat. Sie hatte ihn gefragt, warum er so viel trinkt. Er hatte erwidert, er trinke, um zu vergessen, aber er wisse nicht mehr, was. Kevin war entlassen worden und in ein tiefes dunkles Loch gefallen. Düster hatte er eine kapitalistische Zukunft prophezeit, in der alle Menschen im Gefängnis säßen und nichts anderes täten, als dazusitzen und im Internet einzukaufen.
In den Nachrichten kommt jetzt etwas über Krebs. Karen greift das Stichwort auf und sagt zu Warren: »Wissen Sie, dass man in seinem Leben eigentlich zahllose Male Krebs hat, nur wird der Körper damit fertig, so dass man gar nichts davon mitbekommt. Was wir ›Krebs‹ nennen, ist in Wirklichkeit die Bezeichnung für einen Krebs, der nicht wieder weggeht.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Interessant, oder?« Karen weiß, dass ihr Krebs-Fun-Fact sicher besser angekommen wäre, wenn er in einer E-Mail gestanden hätte; live ausgesprochen lässt es sie wie eine Tante vom Kirchenbasar erscheinen. Im Leben kommt es so oft auf den Tonfall an: das, was man im eigenen Kopf hört, gegen das, was andere dann zu hören oder zu lesen bekommen. Karen hasst außerdem ihre Tendenz, sich in ein Jeopardy!- Spiel zu verwandeln, wenn sie nervös ist, und trotzdem
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