Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
Vom Netzwerk:
Anblick von Tauben, die sich zur Nacht unter die Brücken in Downtown hocken. Sie liebt den ersten Schnee des Jahres und gegrillte Käsesandwiches mit doppelt Ketchup, solange der Ketchup an der Seite liegt und auf keinen Fall das Sandwich berührt, bevor sie sich dazu entschlossen hat, es einzutunken. Sie liebt ihre Mäuse und Mrs. Hovell im Trainingszentrum. Und ganz besonders liebt sie ihren Avatar bei Second Life – ihr furcht- und körperloses elektronisches Double, das sich in alle Zimmer und Räume wagt, das keine profanen Probleme wie schwüles Wetter und unerwartete Geräusche ertragen muss, das nicht das widerlich beschaffene, salzig-zuckrig-fettige und unkalkulierbare Zeug zu sich nehmen muss, das normale Menschen als »Speisen« bezeichnen. Ihr Avatar ist frei und hat nur das eine Ziel, auf der Suche nach Wahrheit und Triumph durchs Universum zu streifen. Ihr Avatar hat Emotionen und entscheidet sich nur, sie nicht abzurufen.
    Nachdem die Männer den Hinterausgang erfolgreich verbarrikadiert haben und sie alle hinter der Theke kauern, wirken die anderen gestresst und verängstigt. Rachel hat gelernt, anhand der Körpersprache auf den Seelenzustand anderer Menschen zu schließen, da sie Gesichtsausdrücke nicht zu interpretieren weiß. Rachel ist wedergestresst noch verängstigt; sie glaubt, dass hinreichende Maßnahmen ergriffen wurden, um ihrer aller Sicherheit zu gewährleisten. Aber sie hat eine Idee, die die Anspannung lösen könnte. Mrs. Hovell hat ihr einmal erklärt: »Rachel, wenn du mal wirklich in der Klemme sitzt und ein Gesprächsthema brauchst, dann frag die Leute, was sie von Beruf sind und was sie durch ihren Beruf gelernt haben.« Mrs. Hovell steckt voller nützlicher Ratschläge. Ein anderer Ratschlag, mit dem Rachel immer gut gefahren ist: Wenn du auf einen Menschen triffst, der erschöpft und gestresst wirkt, sag ihm: »Sie sehen ja großartig aus. So entspannt. Ich wünschte, das könnte ich von mir auch sagen.« Das entspannt dein Gegenüber sofort.
    Also bringt Rachel das Thema Jobs auf, und (danke, Mrs. Hovell) es ist ein voller Erfolg – alle sind für ein Weilchen abgelenkt. Als sie der Gruppe von ihren Erfahrungen als Mäusezüchterin erzählt, unterbricht Rick sie mit einer Reihe auch für sie als schwarzseherisch erkennbaren Einwürfen. Rachel hat sich antrainiert, auf Unterbrechungen nicht zu reagieren. Aber von entscheidender Bedeutung ist der Umstand, dass Rick mit seinen nihilistischen Ausbrüchen stark an ihren Vater erinnert – daher sollte er derjenige sein, von dem sie sich schwängern lässt. Das Problem ist nur, dass Ricks Gesicht arm an charakteristischen Merkmalen und damit schlecht wiederzuerkennen ist. Rachel starrt ihn an und sucht besonders gründlich nach irgendwelchen Auffälligkeiten, die ihr helfen würden, ihn aus einer Menschenmenge herauszupicken, wenn er etwas anderes trüge als seine Barkeeperkluft aus schwarzer Hose und weißem Hemd. Ist das da ein Muttermal? Nein. Eine Narbe? Leslie Freemont hatte mit seiner weißen Mähne immerhin einen hohen Wiedererkennungswert gehabt. Zudem hatte er auch noch ein Muttermal auf der linken Wange, einen asymmetrischen Mund und fast dreieckige, spatelförmige Fingernägel – aber das Haar war markanter als diese Details und machte sie eigentlich überflüssig. Glücklicherweise sah Rick Rachel genauso durchdringend an. Die meisten Menschen schätzenes nicht, so gemustert zu werden. Rachel fragt sich, ob Ricks Bereitschaft, sich erforschen zu lassen, ihn zu einem noch geeigneteren Vater macht. Was zusätzlich für ihn spricht, ist die Tatsache, dass er ihr genau in dem Moment, in dem sie Durst verspürte, ein Ginger Ale holte. Er ist, wie ihre Mutter sagen würde, ein Gentleman. Nur dass die Meinung ihrer Mutter für sie bedeutungslos ist; es zählt ausschließlich die Meinung ihres Vaters.
    In diesem Moment ruft Karens Tochter mit ihren Neuigkeiten über eine Welt ohne Öl an – eine Welt, die womöglich keinen Bedarf mehr an erstklassigen weißen Zuchtmäusen hat. Rachel versucht, nicht auf das Gespräch zu hören, sondern sieht sich um und beginnt den Raum zu untersuchen. Sie überlegt, ob der Innenarchitekt, als er diese Bar entwarf, bewusst eine Umgebung schaffen wollte, die unverbindliche sexuelle Kontakte begünstigt. Im Bus heute Morgen auf dem Weg zur Lounge hatte sie sich eine Bar mit spiegelnden Oberflächen vorgestellt und mit piepsiger Musik im Hintergrund, so eine wie in den Super-Mario-Games.

Weitere Kostenlose Bücher