Spieler Eins - Roman in 5 Stunden
zerschlagen wie ein Ei am Boden. Sein Zeitgefühl hatte sich unentschuldigt entfernt. Er fühlte sich weder alt noch jung, ihm war weder als schliefe noch als träumte noch als wachte er. Er lebte sein ganzes Leben in diesem einzigen Moment. Sein Gehirn knisterte vor Hormonen, Enzymen und Funken elektrischer Fehlzündungen – es war schon bemerkenswert, dass er überhaupt noch wusste, wer er war. Er untersuchte Rachels Wunde und stellte fest, dass die Kugel in ihrem Brustbein steckte. Er hatte das Gefühl, wenn er noch tiefer in ihren Körper hineinfasste, würde er goldene Münzen und Schlüssel, tropische Vögel und Diamanten hervorholen können. Er dachte an das Blut, das durch seine Adern floss und durch die von Rachel. Schlug ihr Herz? Kühlte ihr Körper schon aus, während er dasaß und sie in den Armen hielt?
Luke kam hinzu und sagte: »Ich werde einen Verband machen.«
Rick nahm die Servietten, die Luke ihm reichte, und presste sie gegen Rachels Wunde. Er dachte: Wir kommen alle fern von Gott zur Welt – das Leben sorgt dafür, dass wir immer wieder daran erinnert werden –, und dennoch sind wir alle real: Wir haben Namen, wir haben Biographien. Wir sind zu etwas da. Es muss so sein. Aber was, wenn mein Leben eine schlecht erzählte Geschichte ist? Vielleicht ist eine schlecht erzählte Geschichte nur dazu da, uns zu erinnern, dass es kein Leben nach dem Tode gibt.
Karen reichte Rick eine mit geschmolzenem Eis gefüllte Geschirrwanne,und Rick schnappte nach Luft, während er das Blut notdürftig von Rachels Oberkörper wusch. Jetzt weiß ich mit Sicherheit, dass Hass Eingang in mein Leben finden wird. Ich spüre, wie er in mir anwächst, eine sich rasend schnell teilende Zygote. Und selbst wenn ich irgendwann diesen wild wuchernden Hass abstoßen sollte, ihn von mir abfallen lasse wie einen Brocken Beton – was wird dann das Loch füllen, das er hinterlässt? Das Universum ist so gewaltig und die Welt so voller Herrlichkeit, doch hier stehe ich, eiskaltes schwarzes Öl durch meine Adern pumpend, und ich komme mir vor wie das gottloseste Geschöpf auf Erden .
LUKE
Luke sitzt neben Karen und versucht sich zu erinnern, welcher Wochentag gerade ist. Es erscheint einem beinahe schon wie die Extravaganz einer versunkenen Epoche, in der es vielleicht noch darauf ankam, zu wissen, welcher Wochentag gerade war . Er fragt Karen: »Ist heute ein Dienstag? Oder war es Mittwoch? Kommt jetzt Donnerstag? Ich weiß es nicht mehr.«
»Ich auch nicht, Luke.«
Es fühlt sich für Luke wie ein Standardtag an – besser gesagt, so, wie ein Tag sich angefühlt haben muss, bevor die sieben Wochentage erfunden wurden. Er fragt sich, ob die Erbauer von Stonehenge mit demselben Gefühl von Taglosigkeit lebten. Aber im Fall von Stonehenge hatten sie wahrscheinlich ein Gefühl von Jahrlosigkeit und wollten irgendeine Art von Bestätigung dafür, dass das Jahr bald rum war, dass ihre Winter zu Ende gingen.
Bertis ist tot, sein Leichnam wurde nach hinten rausgeschleift. Max liegt auf einem Floß aus Tischtüchern; er rührt sich nicht und stöhnt von Zeit zu Zeit. Rachel lebt, aber nur so gerade noch, und liegt ebenfalls auf einem Tischtuchfloß. Rick kauert an ihrer Seite, finster und stumm. Im Kerzenlicht sieht das Blut auf seinem Hemd wie Plastilin aus.
Luke sitzt also neben Karen, wacht über Max’ und Rachels Zustand und gibt Max gelegentlich ein Schlückchen von dem Wasser zu trinken, das sie in einem verdeckten Fach neben der Eismaschine gefunden haben.
Außerhalb der Lounge wallt immer noch der chemische Fallout, und Warren ist bloß noch eine rosa beflockte Bodenschwelle. Solange es nicht aufhört, Chemierückstände zu regnen, sitzen sie allein der Lounge fest. Luke hat versucht, Hilfe zu holen, und ist den überdachten Weg rüber zum Hotel gelaufen, aber dessen zuvor schon verschlossene Türen waren nun zusätzlich verbarrikadiert. Zurück in der Cocktaillounge, musste er sich ausziehen und abspülen wie Max, daher trägt er nun eins von Ricks Barkeeper-Outfits.
Luke weiß, dass er eigentlich betrunken sein müsste, aber er hat schon seit Stunden nicht mehr das Gefühl, betrunken zu sein. Er fühlt sich nun extrem klar. Er sieht alles. Er denkt an zwei Stabmagneten, die er vor Jahrzehnten aus dem Physikraum der Highschool gestohlen hat und die ihn dann sein ganzes Leben lang begleitet haben, immer verstaut neben einer Bibel in der Schublade seines Nachttischchens. Luke hat diese Magneten behalten, weil er nie
Weitere Kostenlose Bücher