Spiels noch einmal
zu wissen, wozu der Junge wirklich fähig war. In dieser Nacht nahmen wir unsere Decken und legten uns zum Schlafen auf den Fußboden in Lilahs Sa
lon. Wir, das heißt Chip und ich. Der Junge bekam die Couch, weiß der Teufel warum. Aber sobald er eingeschlafen war, stand Chip auf, packte Hiero an einem Fußknöchel und zerrte ihn herunter. Der Junge fiel aufs Parkett wie ein Sack Kartoffeln. Gähnend streckte sich Chip auf den Polstern aus.
Hiero rief mich zu Hilfe. Er stand da und hielt die Decke vor seinem Bauch fest. »Wieso unternimmst du nichts, Sid?«, fragte er. »Das ist unfair. Der nimmt einfach die Couch, und du schaust seelenruhig zu.«
»Find dich damit ab, Junge«, sagte ich ungerührt. »Schluck’s runter, wenn’s auch schwerfällt.«
Chip kicherte boshaft. »Du bist noch jung, Kleiner. Für dich ist es nicht so schlimm, wenn du am Morgen mit steifen Knochen aufwachst. In meinem Alter reicht’s dir, wenn dir einer steif wird.«
Ich wälzte mich auf den Rücken und verschränkte die Hände im Nacken.
»Hey, Sid, wieso bist du nicht bei deinem Schätzchen?«, fragte Chip. »Die hat ein wunderbar weiches Bett.«
»Halt die Klappe, Chip.«
»Mann, die ist noch gar nicht zu Hause«, flüsterte Hiero vertraulich. »Treibt sich wahrscheinlich mit irgendwelchen Kerlen rum, und unser armer Freund muss schauen, wie er allein zurechtkommt.«
»Na ja, kann er ja, wofür hat der Mensch schließlich seine Finger?«
Draußen fuhr ein Taxi vorbei, das Licht der Scheinwerfer strich über die Zimmerdecke. Von der Straße unten drang der Lärm einer schimpfenden Männerstimme herein. Ich horchte, wartete auf das Geräusch von Lilahs Schlüssel im Schloss; meine Stimmung wurde immer düsterer.
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie nach dieser einen Nacht schon total befriedigt war.« In Chips Stimme war ein ironisches Lächeln zu hören.
»Oder sie hat befürchtet, dass das schon alles war, was Sid ihr zu bieten hat«, sagte Hiero kichernd.
Chip lachte wie blöd über diesen Witz.
Ich stützte mich auf einen Ellbogen und starrte auf die dunkle Gestalt des Jungen. »Wenn du jetzt noch einen einzigen Ton sagst, Junge, ramm ich dir deine Scheißtrompete in die Fresse. Ist das klar?«
Es folgte betretenes Schweigen.
»Was ist los mit dir, Mann?«, fragte Chip. »Verstehst du keinen Spaß?«
Ich sah finster zu ihm hinüber. »Suchst du Streit? Mach mich bloß nicht sauer, Mann.«
»Blödsinn, ich mein es nur gut mit dir. Wenn dir was an dem Mädchen liegt, musst du ihr auch ein bisschen Freiraum lassen. Wenn du jetzt schon zu klammern anfängst, lässt sie dich sausen, das garantier ich dir.«
Aber ich dachte die ganze Zeit an diesen sanften kühlen Kuss, an ihre Finger an meinem Hals. Lange lag ich wach und dachte daran und dann an Berlin und an Ernst und an Paul. Der Junge begann leise zu schnarchen.
»Chip«, flüsterte ich irgendwann, »bist du noch wach?«
»Nein.«
»Denkst du manchmal an diesen Nazi? An den, den du umgebracht hast?«
Er grunzte und wälzte sich herum. »Wieso? Willst du wissen, ob es mir leid tut?«
»Ich weiß nicht. Ja, vielleicht.«
»Nein«, sagte er. »Nicht im Mindesten.«
Wir verstummten. Chip fing endlich auch zu schnarchen an. Ich starrte an die herrschaftlich hohe Decke und fand keine Ruhe. Dieser blöde Junge.
Lilah kam nicht nach Hause, die ganze verdammte Nacht lang nicht.
Delilah hatte gesagt, Armstrong würde in zwei Tagen so weit sein und mit uns spielen. Zwei Tage – wir konnten es nicht glauben.
Aber es schien, als wartete ganz Paris. Ängstliche Spannung hing über den Straßen wie Wäsche auf der Leine. Wenn wir durch die kopfsteingepflasterten Gassen gingen, sahen wir durch die Fenster Familien um die Radiogeräte versammelt, die Bedienungen in den Bars lauschten dem Knistern und Rauschen, das aus den Lautsprechern klang. Wohin man auch kam, überall sah man in diesen Tagen Leute über Radios gebeugt; man hätte meinen können, sie hätten Angst, den Krieg zu verpassen, wenn sie sich wegbewegten. Zuerst kamen Meldungen vom Vormarsch der Franzosen ins Saarland. Dann von Vorstößen der Franzosen und Engländer an der Maginotlinie. Dann rückten die Krauts vor. Chip schüttelte nur immer den Kopf. Delilah erzählte uns von Gerüchten, dass Lebensmittel knapp würden, aber in den Cafés gab es jede Menge Butter und Wein. Wir kamen aus dem finsteren Berlin und wussten, dass das alles nur pure Angst war. Das Einzige, was wir glaubten, war das Knistern
Weitere Kostenlose Bücher