Spiels noch einmal
oder?«
Ich fingerte an dem Besteck neben meinem Teller. Zwischen uns stand ein Korb mit duftendem Brot, und obwohl ich Hunger hatte wie ein Wolf, nahm ich nichts davon.
»Wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht willst«, sagte ich. »Ehrlich.«
»Es war schrecklich, Sid.«
»Ich weiß.«
»Du weißt es nicht.«
Ich schwieg.
Sie sah mich düster an, holte tief Luft. »Wir waren zur Wohnung gegangen, um seine Medizin zu holen«, sagte sie tonlos. »Ich weiß nicht, was es genau war – Paul sagte es mir nicht. Ich glaube, auch wenn das Problem mit der Sprache nicht gewesen wäre, hätte er es mir nicht erklärt; es
war was Privates. Na ja, wir kamen aus meinem Hotel raus –«
»Aus deinem Hotel?«
»Ja, auf dem Rückweg von der Wohnung gingen wir zum Hotel, um meinen Koffer zu holen.«
»Hör mal, du musst mir das nicht erzählen«, sagte ich. »Du musst dir das nicht antun, alles noch einmal zu erleben.«
»Doch«, sagte sie, »es muss sein.«
Ich sah sie grimmig gespannt an.
»Wir waren auf dem Weg zurück«, fuhr sie fort, »als ich jemanden seinen Namen rufen hörte. Paul schaute sich kurz um, und dann rannte er plötzlich los mitten in die Menge vor ihm. Ich stand da, meinen Koffer in der Hand, und dann drängten sich zwei Männer an mir vorbei und schrien aufgebracht auf ihn ein. Ich wusste nicht, was los war, jedenfalls zuerst. Aber dann schrien sie Jude, und das verstand sogar ich. Weißt du, Sid, sie packten ihn und drückten ihn gegen ein Fenster. Da waren Leute drin, die rausschauten. Ich versuchte mit meinem Koffer dazwischenzugehen, aber die Männer schlugen mich nieder.«
»Waren die von der Polizei oder der SA oder so was?«
»Ich weiß nicht. Sie waren jedenfalls nicht in Uniform.«
Ich wollte nicht ärgerlich werden, ich wollte eigentlich nichts als Mitgefühl empfinden, aber es gelang mir nicht. »Scheiße! Du spazierst zusammen mit einem Juden durch Berlin, einen gottverdammten Koffer in der Hand? Was hast du dir dabei gedacht?«
Sie errötete und schaute hinauf zur Straße, die von einem letzten Rest Tageslicht erhellt wurde.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, fragte ich noch einmal.
Sie fing an zu weinen, ganz leise, ihre schmalen Schultern zuckten. Ich saß unbewegt da und starrte schuldbewusst auf das Tischtuch. Mein Ärger über sie war plötzlich verflogen. Wenn sie seinen Namen gerufen haben, dachte ich, müssen sie ihn erkannt haben, und der Koffer hat überhaupt keine Rolle gespielt.
Ein langer Schatten fiel über uns. Ich schaute auf. Da stand ein gut aussehender Schwarzer in einem schicken dunklen Anzug, das Hemd so glatt gebügelt, dass der Kragen wirkte, als wäre er aus Papier gefaltet.
»Lilah?«, sagte er. »Alles in Ordnung mit dir?«
Sie lachte irritiert unter Tränen und blickte hoch. »Ah, hi, Billy. Alles gut, ja, wirklich.« Sie schniefte. »Ich dachte, du bist längst weg.«
»Ich hab versucht dich anzurufen.« Er lächelte und entblößte weiß schimmernde Wolfszähne. »Du warst nicht zu erreichen, und ich hab nur die eine Nummer.«
»Tja, es gibt keine andere Nummer, unter der man mich anrufen kann, daran lag’s nicht.« Sie lächelte betrübt und wischte sich mit den Daumen die Tränen von den Augen.
»Entschuldige, ich wollte nicht aufdringlich sein«, sagte er.
»Es ist schon okay, Billy, wirklich. Ich wohne jetzt in Abesses, der Comte hat mir seine Wohnung überlassen. Schau einfach vorbei, wenn du Lust hast, du bist jederzeit willkommen.«
Der Typ streifte mich mit einem Blick; sein strahlendes Lächeln wurde matter.
»Oh, tut mir leid.« Sie legte ihre Serviette zusammen. »Bill, das ist Sid Griffiths. Sid, Bill Coleman. Ihr beide seid Berufskollegen.«
Bill Coleman ? Ich stand auf. »Klar, ich kenn dich, Mann.
Außer Louis kann es in der ganzen Stadt keinen geben, der so Trompete spielt!«
»Jetzt übertreib mal nicht«, sagte er.
»Nein, das stimmt, Mann, das weißt du genau.«
»Vielleicht hat es mal gestimmt. Aber was ist mit diesem Jungen, der jetzt in Paris ist? Ich hab gehört, der spielt wie der Teufel.«
»Das ist die neue Generation«, sagte ich. »Wir kommen jetzt groß raus.«
»Ich denke, es wird Zeit, dass ich hier abhaue und zurückfahre auf die Insel.«
Delilah schaute ihn an. »Du willst zurück nach New York?«
»Nach Chicago, Kindchen.«
»Wieso? Chicago ist doch gar keine Insel.«
Er lächelte. »Es ist eine Insel im Meer der Mittelmäßigkeit .«
»Bist du sicher, dass du nicht eher vor dem Krieg
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