Spieltage
langsamer gefahren wäre. In einer Sekunde legte ein Auto auf der Autobahn 33 Meter zurück, was, wenn Markus am Radioknopf gedreht hätte und 33 Meter weiter zurück gewesen wäre, als der Laster vor ihm auf die Fahrbahn schleuderte? Nur ein Augenblick hätte anders verlaufen müssen, denkt Heinz Höher, ein Augenblick von 86400 Sekunden, die man jeden Tag erlebt. Der Arzt wartet auf eine Antwort. Heinz Höher spricht mit Doris, worüber man nicht sprechen kann. Dann nickt er dem Arzt zu.
Die frühen Neunziger
Einige Versuche weiterzuleben
Heinz Höher zog in den Keller. Die alten Möbel lagerten dort, die Schrankwand aus Teakholz, die Teppiche, das Bett aus den Bochumer Jahren, über zwanzig Jahre alt. Das Tageslicht, das Leben, drang nicht herein. Er lag auf dem alten Bett ohne Empfinden für die Uhrzeit. Im Keller liefen die Minuten nicht weiter.
Manchmal schrie er mit aller Kraft, so laut, dass ihn Doris oben im Haus hörte. Aber der Schmerz wollte nicht aus seinem Leib fahren. Er sah Markus über den Hausaufgaben sitzen, gelähmt von der Angst, den Vater zu enttäuschen, er sah Markus mit traurigem Gesicht nach Hause kommen, als sie ihm in der Jugendmannschaft des VfL Bochum gesagt hatten, es tue ihnen leid, er sei nicht mehr gut genug; und der innere Schrei wurde wieder lauter: Was war er für ein Idiot gewesen, dass er Markus nicht bei den Hausaufgaben geholfen hatte, warum hatte er Idiot nicht befohlen, Markus bleibt in der Jugendelf, als VfL-Cheftrainer hätte er das doch sicher gekonnt. Er nahm die Whiskyflasche und trank, ohne abzusetzen, trank, bis die Flasche leer war, öffnete die Bierdosen, trank, bis er die Blechdosen in seiner Hand zerknüllen konnte. Er schloss die Faust über dem Blech und drückte zu, bis die Finger schmerzten. Dann drückte er noch weiter zu.
Wenn er nichts mehr zu trinken hatte, musste er den Keller verlassen. Er ging zum Supermarkt, es war gar nicht schwer, er war gar nicht da, nicht im Leben, sondern ging, eingehüllt in eine Schutzschicht aus Luft, an den Leuten vorbei.
Gegen Nachmittag besuchten ihn Thomas, Susannes Freund Michael und der Nachbar im Keller.
Wieso habe ich Idiot nicht angeordnet, Markus bleibt in der VfL-Jugendmannschaft, warum habe ich –
Nein, Papa, du warst ein guter Vater für Markus, fiel ihm Thomas ins Wort. Der Nachbar teilte schweigend die Spielkarten aus.
Sie pokerten jeden Tag bis tief in die Nacht, die Summen stiegen ins Irrsinnige, irgendwann hatte Thomas 2000 Mark Schulden beim Freund seiner Schwester, sie spielten weiter. Niemand sagte, der Thomas ist doch erst 15. Am nächsten Morgen saß der Junge im Biologieunterricht. Er schaute auf die Tafel und sah, flimmernd vor den Augen, nur Ass, Bube, Pik Acht. Im Angesicht von Markus’ Tod zählte das eigene Leben nicht mehr.
Doris rührte keinen Alkohol an. Wenn sie jetzt etwas trank, fürchtete sie, würde sie verrückt. Ihren Mann ließ sie im Keller gewähren. In der Trauer gab es keine Regeln.
Auf der Beerdigung hatte Heinz Höher die meiste Zeit den Kopf streng ins Nichts gerichtet. Dann verschwand er wieder für Tage im Keller.
Sie mussten ihn aus seiner inneren Isolation befreien. Am ehesten konnten sie ihn wohl mit Fußball zurück ins Leben locken. In Italien stand die Weltmeisterschaft 1990 an. Warum fuhr er mit Doris nicht dorthin, sagten sie. Er weigerte sich. Er hatte kein Interesse, dass etwas, dass sein Leben weiterging. Wir haben schon Karten für das Achtel- und Viertelfinale in Mailand, sagten sie, du kannst auch die Deutschen im Trainingsquartier am Comer See besuchen, da sind doch deine Spieler, Stefan Reuter und Andy Köpke. Er nahm nicht wahr, wer das alles für ihn organisierte, war es Susannes Freund Michael, der sich rührend kümmerte, war es Gerd Schmelzer, oder entstand das alles einfach so. Er insistierte, ich will da nicht hin, als er schon am Steuer saß, Richtung Italien.
Fünf Wochen nach Markus’ Tod sah er wieder ein Fußballspiel. Die Deutschen gewannen im Achtelfinale 2:1 gegen die Niederlande, Jürgen Klinsmann im Spiel seines Lebens, und etwas in Heinz Höher setzte automatisch ein. War es nur ein jahrzehntelang geschulter Instinkt, bei einem Fußballspiel sofort aufmerksam zu werden, oder erwachte wieder die echte Leidenschaft? Ein Teil von ihm, fühlte Heinz Höher, blieb taub.
Teamchef Franz Beckenbauer lud ihn ein, die Nationalmannschaft in ihrem Hotel in Erba zu besuchen. Er unterhielt sich mit Stefan Reuter und Andy Köpke, und vermutlich
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