Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald Reng
Vom Netzwerk:
Ungarn bei ihrem Aufstand gegen die sowjetischen Besatzer zu helfen, er verstand nicht, warum es keine Meldestellen für Freiwillige gab. Damals war er naiv gewesen, aber war leidenschaftliche Naivität nicht immer noch besser als das Desinteresse, das er sich, vollends auf Fußball fokussiert, in der Bundesliga angeeignet hatte?
    In der Bundesliga hatten sie mit dem Rücken zur Mauer gelebt. Der DDR-Fußball existierte für sie nicht. Einmal, 1986, hatte Gerd Schmelzer ihm einen neuen Spieler präsentiert, Frank Lippmann. Er war aus Dresden geflüchtet. Heinz Höher wollte etwas mit ihm unternehmen, um ihn willkommen zu heißen, und wusste nicht, was. Er ging mit Lippmann in den Zoo.
    In Jeddah ging Heinz Höher schnorcheln und einkaufen. In einer Stadt, die nur aus Stein zu sein schien, gefangen in der Wüstenhitze, konnte man nicht viel tun. Es war, als ob die Stadt sein bisheriges Desinteresse verhöhnte: Saß er jetzt in einer Stadt, die für Menschen ohne Interessen geschaffen war?
    Doch er empfand die Abwesenheit von Abwechslung, die Distanz zu allem vermeintlich Interessanten und Wichtigem als erholsam. Es war, als ob sich in der Eintönigkeit des Lebens in der Wüste die innere Erschöpfung löste, die ihn, er wusste auch nicht, wie, in den zurückliegenden zwei Jahren befallen hatte. Er machte das Nichttun zu seiner Aufgabe. So, wie er sich oft Aufgaben stellte, nur um zu sehen, ob er sie bewältigte, beschloss er, im Land der Abstinenz keinen Alkohol zu trinken. Er als Ausländer hätte sich leicht in bestimmten Hotels ein Bier bestellen können.
    Von Doris ließ er sich die Permanenzhefte der Spielbanken Bad Kissingen, Bad Reichenhall oder Bad Kötzting nach Saudi-Arabien schicken. Er verbrachte die Nachmittage im Schatten seiner Wohnung damit zu überprüfen, ob in der Reihenfolge der gefallenen Roulettezahlen irgendein Muster zu erkennen war.

17. Mai 1990
Nur ein Augenblick
    Seine Frau ist am Telefon und versucht, ruhig zu sprechen. Die Polizei hat angerufen, sagt ihm Doris.
    Er nimmt nur seine Jacke und das Portemonnaie, nicht einmal die Zahnbürste, und verlässt die Kurklinik in Wiesbaden. Er hatte gedacht, er könne sich zwei Wochen ausruhen, er war noch nie auf Kur gewesen, er hatte gedacht, jetzt sei der ideale Zeitpunkt, nachdem er bei Al-Ittihad entlassen wurde, bevor er zur neuen Saison im Sommer hoffentlich wieder in der Bundesliga einstieg.
    Wo wollen Sie hin, ruft ihm eine Krankenschwester forsch zu, Sie können nicht einfach das Kurgelände verlassen, ohne sich abzumelden. Er erklärt es ihr in einem Satz. Sie senkt den Kopf, tritt zur Seite und murmelt, es tue ihr leid.
    In anderthalb Stunden erreicht er das Universitätsklinikum Marburg. Sie können Markus jetzt nicht sehen, sagt der Arzt. Doris trifft aus Nürnberg ein. Die Knochen kriege ich wieder hin, sagt der Arzt, ein Amerikaner. Aber der Kopf.
    Sie können in Marburg bei Freunden ihrer Nürnberger Nachbarn wohnen. Damit sie nicht alleine im Hotel sitzen. Trinken Sie doch erst einmal einen Klaren, sagt der Hausherr. Heinz Höher schüttelt den Kopf.
    Sie gehen wieder ins Krankenhaus, auch wenn sie dort nichts tun können. Die Rettungssanitäter haben Markus lange Zeit nicht rausgekriegt, sagt der Arzt, er lag unter dem Lastwagen. Markus treffe keine Schuld, sagt der Arzt, als ob es ein Trost wäre, und es ist ein Trost, obwohl es völlig unerheblich ist. Der Lastwagen durchbrach die Leitplanke und kippte auf der Gegenfahrbahn um, vermutlich war der Fahrer in den Sekundenschlaf gefallen, auf der A5 bei Alsfeld, Markus wollte aus Hamburg zu einem Vorstellungsgespräch nach Karlsruhe. Der Laster kippte genau in der Sekunde um, in der Markus mit seinem VW Golf aus Norden vorbeikam, er konnte nicht mehr bremsen – niemand hätte noch bremsen können – und raste frontal in den umkippenden Laster. Der Fernfahrer war sofort tot.
    Am Sonntag, drei Tage nach dem Unfall, sagt der Arzt, sie müssten entscheiden. Als Mediziner sei er verpflichtet, einen Patienten an der Herz-Lungen-Maschine künstlich am Leben zu halten, auch wenn nicht absehbar sei, ob er jemals wieder eigenständig atmen könne. Nur die Eltern können das Abschalten der Maschine anordnen.
    Wenn Markus nur einen Augenblick lang die Fahrt auf der A5 bei Alsfeld verlangsamt hätte, etwa um am Radioknopf zu drehen, denkt Heinz Höher. Wenn bloß der Radiomoderator ein Lied aufgelegt hätte, das Markus nicht gefiel, weshalb er den Sender verstellt hätte und einen Augenblick

Weitere Kostenlose Bücher