Spieltage
Allee. Heinz Höher war zu aufgewühlt, um sich darüber zu wundern oder gar aufzuregen. Er griff auf seine jahrzehntelang erprobten Übungen zurück, er konnte die meiste Zeit auf dem Rasen stehen und stumm zusehen. Aber das Zittern in seinem Körper blieb, eiskalte Mikrowellen durchfuhren ihn. Wirkten die Tabletten nicht, er hatte doch acht genommen. Er wollte sich hinlegen, die Augen schließen. Gleich, sagte er sich, nach dem Training, du kannst heute nur eine Stunde trainieren lassen, beim ersten Mal, das fällt nicht auf, dann legst du dich ins Hotel.
Es waren gut 300 Zuschauer gekommen, zu einem Training. Im modernen Fußball wurde der Alltag zum Ereignis. Zum Abschluss ließ Heinz Höher die Mannschaft ein Spiel ohne Tore bestreiten. Dann rief er die Spieler zusammen, sie sollten noch kurz auslaufen. Sternförmig schritten sie auf ihn zu. Die Ersten hatten ihn schon erreicht, als Heinz Höher zusammenbrach. Er selbst merkte nicht mehr, wie er sich am Boden wand.
Herzinfarkt beim ersten Training, meldete Nachrichtensprecherin Dagmar Berghoff in der Tagesschau. Die Ärzte wussten es schon besser. Nicht das Herz, sein Kreislauf war kollabiert. Ein Angestellter des VfB hatte Heinz Höhers Kleidung aus der Umkleidekabine in die Uniklinik gebracht. Die Ärzte hatten die Tabletten gefunden.
Es war schon Freitag, als Heinz Höher auf der Intensivstation aufwachte.
Er hatte den Zusammenbruch beim Training nicht kommen gefühlt. Er hatte die Spieler nur noch zum Auslaufen schicken wollen, dann wäre das Training vorbei gewesen. Dann hätte er sich im Hotel ins Bett legen können. Der Schlaf hätte das Zittern und die Eiswellen beruhigt. Wenn er fünf Minuten länger durchgehalten hätte, sagte sich Heinz Höher, hätte niemand etwas gemerkt.
Thomas eilte aus Kempten nach Lübeck, ab Nürnberg mit dem Auto des Vaters, einmal längs durch das ganze Land. Er erschrak, als er ihn sah. Das Gesicht war aufgedunsen, die Haut feurig rot, die Nerven ruiniert von der Wut, Traurigkeit und Angst, die Heinz Höher durchschüttelten. Die wollen mich rauswerfen, die dürfen mich auf keinen Fall rauswerfen, das war doch nur ein einmaliger Ausrutscher, ich habe doch einen Vertrag, du musst mit denen reden.
Thomas Höher, 21 Jahre jung, Student der Betriebswirtschaftslehre, traf sich mit Molle Schütt und einem weiteren Wirtschaftsratsmitglied in der Haupttribüne des Lohmühle-Stadions, um für seinen Vater vorzusprechen. Er selbst sah, dass der VfB den Vater schwerlich weiterbeschäftigen konnte. Er sagte mit aller Überzeugung das Gegenteil. Dies war die Chance, auf die sein Vater so lange gewartet hatte, sein Vater war der Trainer, der Nürnberg in den UEFA-Cup geführt hatte, das mit dem Kollaps würde nie wieder vorkommen. Nu, Jung, sagte Molle Schütt freundlich, ruhig, das sei ja alles schön und gut – und Schütt brauchte gar nicht weiterzureden. Thomas fühlte, welche Entscheidung der Lübecker Vorsitzende für sich bereits gefällt hatte. Sie vereinbarten, dass Thomas den Vater nach Hause brachte und sie telefonieren würden, wenn es ihm besser ginge.
Thomas fuhr zum Senator-Hotel, um die Sachen seines Vaters einzusammeln, durch die Fenster der weiträumigen Lobby konnte man direkt auf das stille Wasser des Lübecker Kanals blicken. Er brachte den Vater in dessen schwarzem Mercedes SL zurück nach Nürnberg. Der Kontrast ließ sich nicht übersehen: Das Fünfsternehotel, die Mercedes-Limousine wirkten wie Hohn auf das Leben, das der Vater wirklich führte, das ihn wieder erwartete.
Es ging ihm schon wieder gut, glaubte Heinz Höher drei Tage nach dem Zusammenbruch. Er sei bis Dienstag krankgeschrieben, ab Mittwoch werde er den VfB Lübeck wieder trainieren, verkündete er den Zeitungsreportern, die ihn in Nürnberg anriefen. »Ich hatte lediglich falsche Medikamente eingenommen und dann so eine Art Kollaps erlitten«, sagte er dem Kicker. »Aber jetzt bin ich topfit. Ich bin heiß auf die Sache.«
Er hoffte wider besseres Wissen, dass der Wirtschaftsrat des VfB seine Worte glauben würde. Er telefonierte mit Molle Schütt, dem Chef. Heinz Höher begann das Gespräch mit Argumenten und beendete es bittend und bettelnd. Schütt musste ihm noch eine zweite Chance geben, gewiss habe er sich idiotisch angestellt, aber er sei kein Säufer, er könne den Alkohol kontrollieren. Der Wirtschaftsrat des VfB Lübeck entschied mit 10:0 Stimmen, die Arbeit mit Heinz Höher nicht fortzusetzen. »Wer Pillen nehmen muss, kann nicht
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