Spieltage
Wüst viel vom Fußball. Das gab ihm die Souveränität, bei Fachfragen das letzte Wort meistens dem Trainer zu überlassen.
Nun, wenn Heinz Höher der Meinung sei, dass Wosab gehen müsse, dann müsse er gehen, auch wenn er ihn vergangene Saison eigentlich nicht so schlecht gesehen hatte, sagte Wüst.
Reinhold Wosab verstand die Welt nicht mehr. Er war Europapokalsieger, woran er die Mitspieler in Bochum gerne erinnerte. Er hatte auch mit 34 in Höhers erster Saison in Bochum 25 Bundesligaspiele bestritten, meist ordentlich benotet, mit dem Präsidenten hatte er den Vertrag per Handschlag verlängert, und nun jagte ihn der Trainer ohne eine Begründung, ohne einen Dank weg.
Du kannst gehen, sagte Heinz Höher bloß.
Er konnte Wosab nicht mehr sagen, fand er. Oder wie sollte er ihm sagen, dass er sich durch die schlichte Nähe von Wosab bedroht fühlte?
Es war nur ein Gefühl, dass Wosab störte. Dessen ständiges Gequatsche, wie toll alles und auch er bei Borussia Dortmund gewesen war, als sie den Europacup gewannen. Solche Spieler hielten sich immer auch für toller als der Trainer und brachten irgendwann Ärger, fühlte Heinz Höher, auch wenn andere wie Ottokar Wüst oder Heinz Formann in Wosab einen tadellosen Sportsmann sahen.
Es klingt immer ein wenig schwach oder falsch, wenn Leute nicht mehr als ihr Gefühl als Grund für eine drastische Entscheidung vorzuweisen haben. Aber sehr gute Trainer unterscheiden sich von guten durch ihr Gefühl. Wosab ging, Franz-Josef Tenhagen von Rot-Weiß Oberhausen kam im Sommer 1973, und der VfL Bochum, den alle kennen, entstand. Er wurde zum Inbegriff des ewig aufsässigen Außenseiters der Bundesliga.
Jeder Bundesligist hatte in den Siebzigern eine Achse aus emblematischen Spielern, Maier, Beckenbauer, Müller bei den Bayern, Vogts, Heynckes, Wimmer bei Mönchengladbach, Grabowski, Hölzenbein, Nickel in Frankfurt. Lameck, Gerland, Tenhagen, die rannten und niemals aufhörten zu rennen, waren Bochum.
Diese Spieler waren wie die Fans: Sie gehörten zum Verein. Zu wechseln war ihnen nach ungeschriebenem Gesetz verboten, und in der Tat kam es nur ein paar Freigeistern unter den emblematischen Spielern wie Günter Netzer oder Paul Breitner in den Sinn, ihren Klub zu verlassen. Es war schlichtweg das Höchste, was man sein konnte: das Symbol seines Vereins, der lokale Held.
So waren die Siebziger in der Bundesliga eine wahre Epoche. Alle Jahre wieder hieß es Lameck gegen Hölzenbein, Gerland gegen Heynckes, Tenhagen und Beckenbauer im Duell der Liberos. Wenn ich dich schon wieder sehe, begrüßte Schalkes Rechtsaußen Rüdiger Abramczik im Stadiontunnel Bochums Linksverteidger Ata Lameck vor ihrem x-ten Duell, da vergeht mir gleich die Lust.
Das höchste Gut in der Bundesrepublik der Siebziger war, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben, auf dem man wusste: Hier bleibe ich bis zur Rente. Die Bundesligafußballer ahnten zwar, anders als die Fließbandarbeiter bei Opel in Bochum oder die Chemieingenieure bei Bayer in Leverkusen, dass sie mit Anfang dreißig noch einmal von vorne anfangen mussten, aber im Prinzip funktionierte ein Bundesligaklub nach derselben Idee: Wer einen sicheren Arbeitsplatz hatte, blieb. So spielten die Mannschaften in den Siebzigern nicht nur mit einer immerzu identischen Spielerachse, sondern auch das Personal hinter der Elf blieb dasselbe. Den Geist des Wir in Bochum machten nicht nur Lameck, Gerland, Tenhagen, sondern auch die zwei Christas, Präsident Wüst, Aufsichtsratsvorsitzender Brämer und Lizenzspielerobmann Liese aus. Anders als in anderen Vereinen blieb in Bochum sogar der Trainer immer der Gleiche.
Der Trainerberuf war die eine Ausnahme in der Bundesrepublik der sicheren Arbeitsplätze. Andernorts wurden die Trainer in der Bundesliga seit ihrer Gründung hurtig gefeuert, 62 Trainerentlassungen wurden in den ersten zehn Jahren gezählt. Ottokar Wüst sagte Heinz Höher relativ früh: Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen.
Im Hinterkopf bewegte Heinz Höher durchaus der Gedanke, einmal einen gewaltigeren Klub zu trainieren. Aber das war eine sehr theoretische Idee, quasi ein Pflichtgedanke. Er formulierte für sich drei Ziele: Nie absteigen. Nie entlassen werden. Nie arbeitslos sein. Er fühlte, in Bochum konnte er diese Ziele erreichen.
Die Köpfe gesenkt, die Hände auf dem Rücken, weil es sich so besser nachdenken ließ, gingen Heinz Höher und Ottokar Wüst um den Halterner See spazieren.
Wir müssen nur eine Leitlinie
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