Spieltage
Weltmeisterschaftsfinale 1954 eine Idee von Raumdeckung offenbarten und die Deutschen mit Manndeckung vehement dagegenhielten, wurde im deutschen Fußball schon über das Für und Wider diskutiert. Doch irgendwann schien es in Stein gemeißelt: Deutsche spielten Manndeckung. Dem Gegner immer hinterherzurennen, ihn ganz eng zu bewachen, entspräche nämlich dem fleißigen, gewissenhaften, verbissenen deutschen Naturell, habe er lange geglaubt, sagte der erfolgreichste deutsche Trainer der Siebziger, Udo Lattek. Von Frankfurt, wo Gyula Lorant wirkte, und von Bochum aus verbreitete sich Mitte der Siebziger die Vermischung der beiden Systeme: Spielmacher wurden noch immer in strikte Manndeckung genommen, der Zweikampf hart am Mann war eine deutsche Besessenheit, aber immer öfter sollten Spieler nicht mehr einen bestimmten Gegner decken, sondern einen bestimmten Raum bewachen. Es wurde nicht mehr der Zweikampf in jedem Moment gesucht, sondern nur noch in festgelegten Zonen, in besonders günstigen Momenten. Fortuna Düsseldorfs Trainer Dietrich Weise glaubte, Hunderttausende Deutsche müssten umgeschult werden: »Um aber die Feinheiten der Spieltaktik zu durchschauen, müssten wir allmählich auch die Zuschauer mitschulen.« Denn bliebe das Publikum nicht fern, wenn es sich überfordert fühlte?
Der Moment war gekommen, sagten sich Ottokar Wüst und Heinz Höher im Sommer 1977. Bis zur Stadioneinweihung würden noch zwei Jahre vergehen, aber mit der klaren Aussicht auf die höheren Zuschauereinnahmen konnten sie bei Heinz Brämer in der Westfalen-Bank sicher einen Kredit herauskitzeln. Der Moment war da für den definitiven Sprung. Für 800000 Mark Ablöse verpflichtete der VfL Bochum Dieter Bast von Rot-Weiss Essen.
Was, Dieter Bast kommt zu uns?, riefen die Bochumer Spieler.
Die Neuzugänge, an die sie gewohnt waren, kamen wie Jupp Kaczor von Eintracht Hamm-Heesen aus der vierten Liga und kosteten 25000 Mark.
Dieter Bast galt als einer der feinsten deutschen Angriffsspieler, er konnte auf den Flügeln oder lauernd hinter dem Mittelstürmer operieren. Er schuf Tore. Mit einem Handstreich, einem einzigen Antritt oder Pass, brachte er Aufregung ins Spiel. Bochum, glaubte Heinz Höher, fehlte nur noch dieser eine Spieler, der mit seinen Pässen und Dribblings aus einer eigentlich guten eine konstante Mannschaft machte.
Nach außen blieb der VfL der arme Verwandte unter den Bundesligisten. Im Haus Juliana, wo die Bochumer regelmäßig vor Heimspielen übernachteten, kam einmal Wirt Wilzbach freudestrahlend zu Heinz Höher an den Tisch. Der Herr Wüst habe ihm versprochen, am Samstag kriege er endlich sein Geld, sagte Wilzbach. Hat Herr Wüst Ihnen auch gesagt, an welchem Samstag?, entgegnete Heinz Höher.
Doch am Samstag, dem 6. August 1977, um halb vier, waren die Geschichten vom fehlenden Geld nur noch Anekdoten. Der Moment war gekommen. Der VfL erwartete zum Auftakt der neuen Bundesligasaison den deutschen Meister aus Mönchengladbach; ein Spiel wie gemacht für einen Aufbruch. Die Baustelle an der Castroper Straße war ausverkauft, 22000 Zuschauer füllten die bereits neu gebaute Südtribüne sowie zwei alte Tribünen, während hinter einem Tor ein riesiges Loch klaffte. Dort waren die Stehplatzränge gerade abgerissen, aber noch nicht wieder aufgebaut worden.
Einige Monate zuvor waren die zwei Christas aus der Geschäftsstelle in die Stadt gefahren, um bei der SPD-Regierung gegen die Baupläne für das neue Stadion zu protestieren. Es war schon wieder keine Frauentoilette eingeplant!
Könne er sich vorstellen, was es bedeute, zwei Stunden beim Fußball zu verbringen, ohne auf die Toilette gehen zu können, fragte Christa Jewers den Zweiten Vorsitzenden der SPD-Bochum, Heinz Hossiep.
Was wollen Sie denn, regte sich Hossiep mächtig auf. Frauen gingen sowieso nicht zum Fußball.
Aber die zwei Christas setzten ihre Toiletten durch. Sie mussten nur noch zwei Jahre darauf warten.
Der VfL und der Meister spielten, wie so viele Mannschaften am ersten Spieltag, wie zwei Teams, die gar nicht gewinnen wollen, sondern bloß nicht verlieren. Wenn sie den Ball passten, hatten sie meistens im Hinterkopf, was passieren könnte, falls sie den Ball verloren. So kamen sie nicht vorwärts. Dieter Bast versuchte sich im Niemandsland zwischen Mittelfeld und Angriff seinem Manndecker Horst Wohlers zu entziehen, was ihm verständlicherweise schwerfiel. Was Heinz Höher allerdings irritierte, waren die Pausen, die sich sein Mann
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