Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
gleichen Zeit betrachtet werden konnten und trotzdem immer sieben ergaben. Seine Lehrer und er, er und Ada, immer die gleiche Summe. Was wusste er schon davon, wie Ada von ihm dachte. Zwei Läufer konnten am selben Fluss entlangrennen, den Blick auf dieselben Bäume und Spaziergänger gerichtet, und dennoch zwei völlig verschiedene Welten sehen. Das ließ sich nicht überprüfen. Was Ada ihm mitteilte, mochte aus vollem Hals gerufen sein und kam doch als ein unverständliches Zwitschern bei ihm an. Smutek spürte, dass er sich einer Erkenntnis näherte, aber jedes Mal, wenn er danach greifen wollte, entglitten ihm die Zusammenhänge.
    Seine Frau lag auf dem Sofa. Ob sie schlief oder aus anderen Gründen still hielt, war nicht zu unterscheiden. Die letzten Sätze hatte er laut gesprochen. Kein Nicken oder Kopfschütteln zeigte an, ob auch die Teile ihres Lebens wie die gegenüberliegenden Seiten eines Würfels waren. Jetzt stand Smutek mit dem Rücken zum Fenster, seiner Frau zugewandt. Er wollte ihr etwas erklären. Die eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren, sie schien einen vorgefertigten Text zu verlesen, der nirgendwo geschrieben stand.
    Die Zeit, musst du wissen, besteht aus unendlich vielen Schichten, von denen jede die Stärke eines Moments besitzt. Sie liegen dichter aufeinander als die Lamellen unter dem Hut eines Pilzes. Also sind alle Momente der Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig vorhanden. Zwischen zwei Schichten entstehen immer noch weitere Ebenen, das sind die Kausalketten verschmähter Zufälle, nicht eingetretener Möglichkeiten und abgewählter Alternativen. So stapeln sich die Stockwerke in rasanter Geschwindigkeit und Ausdehnung zu einem anwachsenden Blätterteig. Auf der Suche nach seinem Weg schlingert unser Bewusstsein ständig zwischen den nächstgelegenen Etagen hin und her. Dabei erzeugt es eine Unschärfe, die wir verkraften, indem wir sie der notorischen Unvollkommenheit unseres Gedächtnisses zuschreiben. Gerät einer zu weit in fremde Schichten hinaus, glaubt er, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Strauchelt er, stürzt und findet den Rückweg nicht mehr, wird er panisch umherirren und nichts mehr als zutreffend erkennen. Nichts passt mehr zusammen, nichts ergibt Sinn. Man wird von ihm sagen: Jener ist tragischerweise verrückt geworden, er hält sich für jemanden, der er nicht ist, und glaubt an Dinge, die niemals geschahen. Die Ärzte nennen das Schizophrenie. Sie ist die Philosophin unter den Krankheiten. Ich wollte dir sagen, dass ich in letzter Zeit häufig zwischen die Schichten geraten bin. Vielleicht geht es dir auch so und all den anderen auch. Vielleicht gab es kürzlich ein Erdbeben im Zeitgefüge.
    Smutek wusste nicht genau, wovon er sprach, und vor allem: zu wem. Er fühlte sich erhoben, er spürte die Nähe aller Menschen, die ihm wichtig waren. Es war nicht auszuschließen, dass seine Frau ihm mit dem Unterbewusstsein zuhörte wie ein Wachkoma-Patient. Er wollte das Fenster aufreißen und mit lauter Stimme in die Nacht rufen: Ich habe Antwort, hört mich an! Die Welt ist eine Lasagne.
    Aber es sprach nur der Regen zur Welt. Die Menschen, denen Smutek sich so nahe fühlte, saßen unerreichbar hinter den vielen Mauern der Stadt. Irgendwo hockte Höfi am Boden und krümmte seinen verwachsenen Körper wie ein krankes Kind, bis er die Innenseiten der Knie gegen die Ohren pressen konnte. Er fuhr sich ins dünne Haar und krallte die Nägel in die Kopfhaut, als könnte er auf diese Weise einen Spalt öffnen, an dem sich der Schädel auseinander klappen ließ. Dem nachlassenden Gewitter schenkte er keine Aufmerksamkeit. Er war zum nutzlosen Überbleibsel einer omnivoren Vernichtung geworden, ausgespien als ein ungenießbares Korn in einem opulenten Mahl. Irgendwo anders stakte Ada auf Cowboybeinen durch den Regen, hielt durch die steife Gangart den Jeansstoff von den wunden Lippen ihres Geschlechts fern und beobachtete einen Mann, der plötzlich ruckartig stehen blieb und in eine Pfütze starrte, an deren Grund die Titelseite einer Zeitung auf dem Asphalt klebte. Gebückt las er ein paar Zeilen und rannte davon in die Richtung, aus der er gekommen war. Vielleicht hatte das nasse Blatt ihm mitgeteilt, dass in wenigen Tagen zehn Bomben den Bahnhof einer europäischen Metropole zerreißen und den halben Kontinent in den Wahnsinn treiben würden. Vielleicht war etwas verrutscht. Ada begann zu singen, während der Regen nachließ, sang einen einzelnen Ton, der anschwoll

Weitere Kostenlose Bücher