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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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wurde. Dringend musste sie die Unordnung in ihrem Kopf mit frischer Luft verdünnen. Hinter ihr lief Alev die Treppen hinunter und überholte sie im rechten Moment, um aufschließen und die Tür für sie halten zu können. Hintereinander traten sie auf die herrschaftlich breiten Stufen. Sie verabschiedeten sich mit Handschlag.
    Eine Weile blieb Ada im Eingang stehen, um den Regen zu betrachten, der in starken Wasserseilen vom Himmel hing. Sie konnte sich nicht gleich überwinden, in diesen flüssigen Vorhang einzudringen, der keine andere Seite hatte, nur Vorhang war, ohne etwas Schönes oder Schreckliches zu verdecken. Kein normaler Mensch war bei diesem Wetter auf der Straße. Der Regen sperrte die Menschen ein, während ein gigantisches Reinigungsunternehmen der Welt das Gesicht abmontierte, um darunter gründlich sauber zu machen. Der Regen schloss Fenster, verriegelte Türen, löschte die Gärten aus. Autos pflügten als glotzäugige Fische vorbei, die Bürgersteige waren Stege für menschliche Scherenschnitte, für Außenseiter und Aasfresser, für die Angestellten der Niemandslandwirtschaft. Ein Stück der großen Dunkelheit, der die Städte wie leuchtender Christbaumschmuck aufgesteckt sind, war in die Straßen gesickert und teilte den wenigen, die es aushalten konnten, etwas über die Weite unbewohnter Räume mit, über das Universum und dessen vollkommene Unabhängigkeit von aller menschlichen Existenz. Ada atmete tief, als gälte es, mit einer einzigen Lungenration bis nach Hause zu tauchen, und stieß sich von der Wand ab. Als sie losrannte, hatte sie bereits eine Grenze überschritten, und alles, was geschehen war, blieb hinter ihr zurück.
    Die Welt ist eine Lasagne
    W ährenddessen saß Höfi fünf Kilometer entfernt auf der Bettkante seiner Frau, betrachtete eine andere Abteilung desselben Regens und dachte über das Universum und dessen Unabhängigkeit von aller menschlichen Existenz nach. Nie zuvor hatte er so deutlich empfunden, dass ihn das Universum nicht das Geringste anging. Es war kein Ort für ihn. Dem Körper bot es zu viel Platz, dem Geist zu wenig.
    Das Gleiche galt für den Planeten, den Kontinent, Deutschland, diese Stadt und das Zimmer, in dem er sich aufhielt.
    Im Zimmer befand sich eine Reihe von Gegenständen, die nicht hineingehörten. Sie passten nach Farbe, Form und Geruch nicht zur Einrichtung, die aus wenigen Nussholzmöbeln bestand, aus dicken Teppichen und aus Büchern, die den Großteil der Wandflächen täfelten. Die fremden Gegenstände waren aus Aluminium, transparentem Gummi und weißem Plastik, sie ragten hoch auf oder waren kastenförmig und schwer, hatten kugelförmige Rollen unter sich und griffen mit SchlauchTentakeln in die ebenfalls fremd gewordene Luft. Alles das, erkannte Höfi bei Betrachtung der Regengardine vor dem Fenster, ging ihn nichts an. Es gab nur ein Ding, das ihn betraf. Dieses Ding war seine kleine, britische Frau, die ihm schon fast unter den Händen entschwunden war, die nicht auswich, wenn er sie festhalten wollte, sondern lächelte und sich vertrauensvoll seinem Griff überließ und trotzdem immer weniger wurde, so wenig, dass die Bettdecke sie kaum noch zur Kenntnis nahm. Ihr Atem war kein Heben und Senken mehr, sondern das sporadische Zucken eines vogelknöchigen Tiers.
    Unzählige Male an diesem Abend hatte Höfi geglaubt, seit dem letzten Atemzug sei ein zu langer Zeitraum vergangen.
    Er hatte das Gewitter kommen und gehen und zurückkommen gehört. Er saß still, als der Regen zu fallen begann. Seine Frau und er sprachen nicht mehr. Alles Wichtige hatten sie einander gesagt, und für Unwichtiges war nicht der rechte Moment. Sie lächelte mit geschlossenen Lidern, und wenn sie ein- oder zweimal in der halben Stunde die Augen öffnete, waren sie so voller Gefühl, dass Höfi sich zwingen musste, den Blick nicht abzuwenden.
    Er wartete längst nicht mehr. Seine Gedanken schweiften zu seiner achten Klasse mit den vielen magersüchtigen Mädchen, zum kleinwüchsigen Teuter, der Unglück brachte, weil er nicht wusste, was Glück war, zu Ada, mit der er grundloses Mitleid empfand seit dem Moment, da er sie und ihre nervöse Mutter zum ersten Mal gesehen hatte. Es gab so wenig Bedeutendes, an das er denken konnte. Das Leben war von Banalitäten erfüllt, es war aus ihnen erbaut, Banalitäten waren sein Baustoff, Mörtel und Putz. Selbst angesichts des Todes war man gezwungen, banale Dinge zu tun, die Telefonschnur aus der Dose zu ziehen, um sich

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