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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Sprachen erlernten - und keine davon richtig. Beim Lesen seiner Klassenarbeiten sah Smutek einen Schwergewichtsboxer vor sich, dem es nicht gelang, einen Kieselstein vom Boden aufzuheben. Auf Ernst-Bloch wurde ein großzügiges Schulgeld entrichtet, das dabei half, über derartige unverschuldete Schwierigkeiten hinwegzusehen.
    Bitte erwerben sie anlaeslich hoefis beerdigung einen grossen krantz. Folgender spruch hat dass bant zu zieren: Die hoffnung stirbt zuerst.
    Grundsätzlich war Smutek einverstanden mit dieser Idee. Der Kranz kostete dreihundert Euro zuzüglich der Kosten für die Lieferung. Die wenigen Besucher am Fußende des frischen Grabs entstammten überwiegend dem Kollegium. Neben dem Blumengebinde, das die Schulleitung gestiftet hatte, war Smuteks prächtiger, anonymer Kranz die einzige Gabe. Man tuschelte erleichtert. Man glaubte, der Verstorbene habe vielleicht keine engen Verwandten, wenigstens aber einen fernen Jugendfreund oder eine leicht verrückte Geliebte besessen.
    Das Verlangen des zweiten Zettels war ebenso leicht zu erfüllen, und Smutek erlaubte sich in einer leichtfertigen Minute die Hoffnung, gegen schwächere Gegner zu spielen. Immerhin waren sie noch halbe Kinder, deren Spieltrieb dem einer jungen Katze glich. Die Richtigkeit dieser Annahme täuschte eine Zeit lang darüber hinweg, dass genau darin die schlimmste Bedrohung lag.
    Am Ende einer Deutschstunde bat Smutek Herrn El Qamar um ein kurzes Gespräch. Ada verließ das Klassenzimmer ohne Schulterblick. Zum ersten Mal befanden sie sich allein miteinander in einem Raum. Alev hatte sich mit einem zynischen Lächeln gegen jeden Angriff gewappnet. Überdeutlich war Smutek bewusst, dass er diesem Jungen um eine Generation, zwanzig Kilo und dreißig Zentimeter Körperlänge überlegen war. Alev saß auf seinem Platz an der Tür, Smutek am Lehrerpult, so dass vier Meter und ein paar Zentner Schulmobiliar sie voneinander trennten. Smutek stellte ein paar Klassenbucheinträge fertig, während er sprach.
    »Die von dir verlangte Notenverbesserung«, sagte er und bemerkte mit Genugtuung, wie Alev wegen des Duzens die Augenbrauen zu viaduktischen Bögen wölbte, »müssen wir langsam angehen. Ich schlage vor, du lässt dir von Ada Nachhilfeunterricht geben. Deine Erfolge belaufen sich auf, sagen wir, zwei Punkte bis Halbjahresende. Mehr wäre unglaubwürdig.« Er hob den Kopf und sah Alev mit ausdrucksloser Miene direkt in die Augen, wie man es bei einer Raubkatze auf keinen Fall tun sollte. »Jetzt wünsche ich dir viel Spaß und Erfolg in der großen Pause.«
    Alev nickte, stand auf, wodurch er nur unwesentlich größer wurde, und verließ gemessenen Schrittes das Zimmer.
    Der Rhythmus des Vormarschs war sorgfältig organisiert, wie die Tonfolge in einem minimalistischen Musikstück. Gerade fing Smutek an sich zu fragen, wann ihn die erste größere Geldforderung erreichen werde, als er zwischen den Seiten seines Notizblocks auf den dritten Zettel stieß. Er musste die Botschaft mehrmals lesen, um zu begreifen, dass sie kein Geld wollten, sondern etwas anderes, das nicht leicht zu benennen war. Am besten traf es die schlichte Zusammenfassung: Sie wollten ihn selbst.
    Erst diese Nachricht führte dazu, dass er aus seinem Leben absprang wie von einem fahrenden Zug und in einen Mantel gewickelt den Bahndamm der eigenen Biographie hinunterrollte. Er stand allein im leeren Klassenzimmer, und ein erster, irrationaler Impuls ließ ihn auflachen. Freut euch, dachte er, freut euch, ihr Soziologen und Feuilletonisten - die junge Generation ist viel weniger materialistisch, als ihr es zu beklagen gewohnt seid. Sie will kein Geld, sie will etwas Besseres und verfolgt ihr Ziel auf den Wegen des klassischen Dramas. Das ist gelebte Kultur!
    Sein Zynismus war kurzlebig. Als Lehrer hatte Smutek einige Erkenntnisse über die deutsche Jugend verinnerlicht, die er jetzt rekapitulierte. Das Ergebnis fiel nicht zu seinen Gunsten aus. Diese jungen Menschen hatten keine Wünsche, keine Überzeugungen, geschweige denn Ideale, sie strebten keinen bestimmten Beruf an, wollten weder politischen Einfluss noch eine glückliche Familie, keine Kinder, keine Haustiere und keine Heimat, und sehnten sich ebenso wenig nach Abenteuern und Revolten wie nach der Ruhe und dem Frieden des Althergebrachten. Überdies hatten sie aufgehört, Spaß als einen Wert zu betrachten. Freizeit und Nichtfreizeit waren gleichermaßen anstrengend und unterschieden sich in erster Linie durch die

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