Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Frage, ob man Geld verdiente oder ausgab. Hobbys zum Totschlagen der Zeit waren überflüssig, da die Zeit auch von selbst verging. Fernsehen war langweilig, die Literaturszene tot, und im Kino liefen seit Jahren nur Varianten auf drei oder vier verschiedene Filme. Diskotheken waren etwas für Liebhaber von Dummheit und schlechter Musik, und auf Schostakowitsch konnte man nicht tanzen. Diese Jugend hatte aufgehört, sich für industriell geschneiderte Moden, Identitäten, Heldenfiguren und Feindbilder zu interessieren. Weniger als jede Generation vor ihrer bildete sie eine Generation. Sie war einfach da, die Sippschaft eines interimistischen Zeitalters. Wenigstens, dachte Smutek, wenigstens marschieren sie nicht mehr. Oder noch nicht.
    Gelegentlich hatte er sich gefragt, woraus diese Überlebenden der Postmoderne Kraft und Antrieb schöpften. Die Antwort darauf schien das Vorglühen einer neuen Epoche anzuzeigen. Musste sie ausgerechnet ihm, einem harmlosen, nicht ausreichend geschulten Zivilisten, eröffnet werden? Einem polnischen Deutschlehrer, der stets in Dinge hineingeriet und die Dinge in ihn, ohne dass er je nach seiner Meinung gefragt worden wäre? Smutek konnte nichts anfangen mit seiner Entdeckung, und ohne den geeigneten Mann, der sie fasste, war eine Erkenntnis nichts wert. Vor Kolumbus konnten schon Wikinger, Mongolen, Irre in Faltbooten oder Schiffbrüchige auf Planken da gewesen sein - erst der Richtige war zum Entdecker geworden. Smutek war nicht geeignet für den kleinsten geistigen Zufallsfund. Fassungslos stand er vor der Auskunft, die der soeben angetroffene Zettel ihm erteilte: Alles geht, alles kommt zurück, ewig rollt das Rad des Seins. Man wollte den Selbstzweck, den Willen zur Macht. Spieltrieb. Daher also nahmen sie ihre Kraft.
    Smutek neigte nicht zum Selbstmitleid und wollte in diesem Moment trotzdem wissen, warum ausgerechnet er zu einem Opfer des Monstrums werden musste. Er stürzte sich in die Suche nach einem winzigen Fehler, nach einer Bewegung, mit der er versehentlich die Starttaste betätigt haben könnte. Ein niederträchtig koketter Blick in die öligen Augen der Mutter bei ihrer ersten Begegnung auf den Fluren Ernst-Blochs? Ein kurzes Flügelschlagen beim Anblick der hoch entwickelten Brüste seiner künftigen Schülerin? Ein Hauch Arroganz gegenüber Alevs erstem Salam alaikum? Smutek kannte die traurige Wahrheit im Voraus. Er hatte keinen Fehler begangen. Wenn es ihm Spaß machte, konnte er sich darauf zurückziehen, zwischen den Mühlsteinen zweier aneinander stoßender Zeitalter zermahlen zu werden.
    Zehn Minuten nach Zugang der dritten Forderung hatte Smu-tek die Stadien der Esoterik durchlaufen und war entschlossen, die Grübeleien abzustellen wie einen weichgespülten Song im Radio. Er wollte die aufsteigenden Fragen eine nach der anderen wieder unter die Oberfläche drücken. Er wollte nicht wissen, ob diese rätselhaften jungen Menschen, ihrem apollinischen Auftreten zum Trotz, die neuen décadents waren und jene verhängnisvolle Neigung zur Entwicklung dionysischer Süchte besaßen, die sich auf beinahe jeden Gegenstand richten konnte und rasante Steigerungen verlangte - und was ihm bevorstand, wenn dies zutreffen sollte. Smutek wollte weder Fragen noch Antworten hören. Er bereitete sich darauf vor zu gehorchen.
    Smutek gehorcht
    P ünktlich wie ein Dienstleister begab er sich am folgenden Nachmittag um siebzehn Uhr zur Turnhalle. Durch die wandhohen Fenster aus Glasbausteinen drang kein künstliches Licht nach außen. Trotzdem wusste Smutek schon beim Aufschließen, dass sie da waren, er fühlte ihre Anwesenheit wie die eines Poltergeists. Sie mussten sich während des VolleyballTrainings eingeschlichen haben.
    Smutek erblickte die vertraute Umgebung mit jener unnatürlichen Klarheit der Wahrnehmung, die für Schockzustände symptomatisch ist. Da war der grünliche Hallenboden, von den Bremsspuren unzähliger Sportschuhe beschriftet. Vier Paar Turnerringe hingen wie Requisiten einer Theaterkulisse hoch unter der Decke. Die hellhölzernen Kletterwände waren fast ungebraucht, für die Kleinen zu gefährlich, den Älteren zu langweilig. Fünf braunrückige Lederpferde standen im Stall, das eingefaltete Trampolin kam immer am letzten Schultag vor den Ferien zum Einsatz. Smutek glaubte, sogar die Unmengen von Fuß-, Volley-, Medizin-, Hand- und Basketbällen zu spüren, die in verschlossenen Metallschränken aufbewahrt wurden. Es roch nach Schweiß, Gummi und

Weitere Kostenlose Bücher